Gott blickt vom Himmel herab auf die Menschen, ob noch ein Verständiger da ist, der Gott sucht … Sie essen Gottes Brot, doch seinen Namen rufen sie nicht an. Psalm 53,3 –5 Vorwort Castel Gandolfo im Sommer. Der Weg zur Residenz des Papstes führte über einsame Landstraßen. Auf den Feldern schaukelte sich das Korn in einem zarten Wind, und in dem Hotel, in dem ich ein Zimmer reserviert hatte, tanzte eine fröhliche Hochzeitsgesellschaft. Nur der See tief unten in der Senke schien ruhig und gelassen, groß und blau wie das Meer. Als Präfekt der Glaubenskongregation hatte mir Joseph Ratzinger zweimal die Gelegenheit gegeben, ihn über mehrere Tage hinweg zu interviewen. Die Kirche darf sich nicht verstecken, war seine Haltung, der Glaube muss erklärt werden; und er kann erklärt werden, weil er vernünftig ist. Er wirkte auf mich jung und modern, keiner, der Erbsen zählt, sondern ein Mann, der mutig wagt, neugierig bleibt. Ein souveräner Lehrer, und ein unbequemer dazu, weil er sieht, dass wir Dinge verlieren, auf die man eigentlich nicht verzichten kann. In Castel Gandolfo waren einige Dinge anders. Ein Kardinal ist ein Kardinal, und der Papst ist der Papst. Noch niemals in der Geschichte der Kirche hatte ein Pontifex in Form eines persönlichen und direkten Interviews Rede und Antwort gestanden. Alleine die Tatsache dieses Gespräches setzt einen wichtigen neuen Akzent. Benedikt XVI. hatte zugesagt, mir in seinen Ferien zur Verfügung zu stehen, von Montag bis Samstag der letzten Juliwoche, täglich eine Stunde. Aber wie offen, überlegte ich, würden seine Antworten ausfallen? Wie beurteilt er seine bisherige Arbeit? Was hat er sich noch vorgenommen? Dunkle Wolken hatten sich über der katholischen Kirche zusammengezogen. Der Skandal des Missbrauchs warf seine Schatten auch auf das Pontifikat Benedikts. Mich interessierten die Ursachen dieser Dinge, der Umgang mit ihnen, zugleich aber auch die brennenden Sorgen des Papstes in einer Dekade, von der Wissenschaftler glauben, sie sei absolut entscheidend für die gesamte Zukunft des Planeten. Die Krise der Kirche ist das eine, die Krise der Gesellschaft das andere. Beides ist nicht ohne Zusammenhang. Man hat den Christen dabei vorgehalten, ihre Religion sei eine Scheinwelt. Aber erkennen wir heute nicht ganz andere, die eigentlichen Scheinwelten? Die Scheinwelten der Finanzmärkte, der Medien, des Luxus und der Moden? Müssen wir nicht schmerzhaft miterleben, dass eine Moderne, die ihre Wertmaßstäbe verliert, ins Bodenlose zu sinken droht? Da zeigt sich ein Bankensystem, das riesige Volksvermögen vernichtet. Da ist ein Hochgeschwindigkeitsleben, das uns buchstäblich krank macht. Da ist das Universum des Internets, auf das wir noch keine Antworten haben. Wo gehen wir eigentlich hin? Dürfen wir alles, was wir tun können, auch wirklich machen? Und wenn wir in die Zukunft blicken: Wie wird die nächste Generation mit den Problemen fertig werden, die wir ihr hinterlassen? Haben wir sie genügend vorbereitet und fit gemacht? Besitzt sie ein Fundament, das Sicherheit und Kraft gibt, auch stürmische Zeiten zu überstehen? Die Frage ist auch: Wenn das Christentum im Westen seine gesellschaftsgestaltende Kraft verliert, wer oder was tritt an seine Stelle? Eine areligiöse „Zivilgesellschaft“, die keinen Gottesbezug in ihrer Verfassung mehr duldet? Ein radikaler Atheismus, der die Werte der christlich-jüdischen Kultur vehement bekämpft? In jeder Epoche gab es die Bestrebung, Gott für tot zu erklären; sich dem vermeintlich Greifbareren zuzuwenden, und wenn es goldene Kälber sind. Die Bibel ist voll von solchen Geschichten. Sie haben weniger mit einer mangelnden Attraktivität des Glaubens als mit den Kräften der Versuchung zu tun. Aber wohin geht dann eine gottferne, gottlose Gesellschaft? Hat nicht eben erst das 20. Jahrhundert in West und Ost dieses Experiment durchexerziert? Mit seinen furchtbaren Folgen an geschlagenen Völkern, der Schornsteine in den Konzentrationslagern, der mörderischen Gulags? Der Direktor der päpstlichen Residenz, ein sehr freundlicher älterer Herr, führte mich durch nicht enden wollende Räume. Er habe Johannes XXIII. und alle seine Nachfolger gekannt, flüsterte er mir zu; dieser hier sei ein ungewöhnlich feiner Papst – und unfassbar fleißig. Wir warteten in einem Vorzimmer, so groß wie eine Reithalle. Kurze Zeit später öffnete sich eine Tür. Und da stand die nicht eben riesenhafte Gestalt des Papstes, der mir seine Hand entgegenhielt. Seine Kräfte hätten nachgelassen, meinte er zur Begrüßung, fast entschuldigend. Aber dann war nichts zu spüren davon, dass über den Strapazen des Amtes die Spannkraft dieses Mannes wirklich gelitten hätte, oder gar sein Charisma. Ganz im Gegenteil. Als Kardinal warnte Joseph Ratzinger vor dem Verlust an Identität, an Orientierung, an Wahrheit, falls ein neues Heidentum die Herrschaft über das Denken und Handeln der Menschen übernehmen würde. Er kritisierte die Spießigkeit einer „Habsuchtgesellschaft“, die immer weniger zu hoffen und nichts mehr zu glauben wagt. Es gelte, eine neue Sensibilität für die bedrohte Schöpfung zu entwickeln, sich entschieden den Kräften der Zerstörung entgegenzustellen. An dieser Linie hat sich nichts geändert. Von seiner Kirche will der heutige Papst, dass sie sich nach den schrecklichen Missbrauchsfällen und Verirrungen einer Art Grundreinigung unterzieht. Unerlässlich sei, nach vielfach so fruchtlosen Diskussionen und einer lähmenden Beschäftigung mit sich selbst, endlich wieder das Geheimnis des Evangeliums, Jesus Christus kennenzulernen in seiner ganzen kosmischen Größe. In der Krise der Kirche läge eine riesige Chance, nämlich die Wiederentdeckung des eigentlich Katholischen. Die Aufgabe heiße: den Menschen Gott zu zeigen und ihnen die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit über die Geheimnisse der Schöpfung. Die Wahrheit über die menschliche Existenz. Und die Wahrheit über unsere Hoffnung, die über das rein Irdische hinausgeht. Schaudert uns nicht auch längst vor dem, was wir angerichtet haben? Die ökologische Katastrophe setzt sich ungebremst fort. Der Niedergang der Kultur nimmt bedrohliche Formen an. Mit der medizinisch-technischen Manipulation des Lebens, das einst als heilig galt, werden letzte Grenzen verletzt. Gleichzeitig gilt unsere Sehnsucht einer Welt, die verlässlich und glaubwürdig ist, die nah ist, die menschlich ist, die uns im Kleinen schützt und uns das Große zugänglich macht. Werden wir durch eine häufig so endzeitlich wirkende Situation inzwischen nicht geradezu gezwungen, wieder über einige Grunddinge nachzudenken? Woher wir kommen. Wohin wir gehen. Jene Fragen zu stellen, die scheinbar banal sind – und die dennoch so unauslöschlich in den Herzen brennen, dass keine Generation um sie herumkommt? Fragen nach dem Sinn des Lebens. Nach dem Ende der Welt. Nach der Wiederkehr Christi, wie sie im Evangelium angekündigt ist. Sechs Stunden Interview mit dem Papst sind eine Menge Zeit, und sechs Stunden sind wiederum auch sehr wenig. Im Rahmen dieses Gespräches konnten nur wenige Fragen angesprochen und viele nicht vertieft werden. Der Papst hat bei der Autorisierung des Textes das gesprochene Wort nicht verändert und lediglich kleinere Korrekturen vorgenommen, wo er sachliche Präzisierungen für notwendig hielt. Die Botschaft Benedikts XVI. ist am Ende ein dramatischer Appell an Kirche und Welt, an jeden Einzelnen: Wir können unmöglich weitermachen wie bisher, ruft er aus. Die Menschheit stehe an einem Scheidepunkt. Es sei Zeit für Besinnung. Zeit für den Wechsel. Zeit für Umkehr. Und unbeirrbar hält er fest: „Es gibt so viele Probleme, die alle gelöst werden müssen, die aber alle nicht gelöst werden, wenn nicht im Zentrum Gott steht und neu sichtbar wird in der Welt.“ An dieser Frage, „ob Gott da ist – der Gott Jesu Christi – und anerkannt wird, oder ob er verschwindet“, entscheide sich heute, „in dieser dramatischen Situation, das Geschick der Welt“. Für heutigen Lifestyle sind Positionen, wie sie von der katholischen Kirche vertreten werden, zu einer ungeheuren Provokation geworden. Wir haben uns angewöhnt, traditionelle, erprobte Standpunkte und Verhaltensweisen als etwas zu betrachten, was man zugunsten billiger Trends besser brechen sollte. Das Zeitalter des Relativismus jedoch, glaubt der Papst, einer Weltanschauung, „die nichts als endgültig anerkennt und als letzten Maßstab nur das eigene Ich und seine Wünsche gelten lässt“, neige sich dem Ende zu. Heute wächst jedenfalls die Schar derjenigen, die an dieser Kirche nicht nur ihre Liturgie schätzen, sondern auch ihre Widerständigkeit; und inzwischen wird nach vielfachem Wir-tun-nur-so-als-ob der Bewusstseinswandel deutlich, christliches Zeugnis wieder ernst zu nehmen und seine Religion auch authentisch zu leben. Was den Papst selbst betrifft: „Wie ist es“, wurde ich gefragt, „wenn man ihm plötzlich ganz nah gegenübersitzt?“ Ich musste an Émile Zola denken, der in einem seiner Romane einen Priester beschreibt, der zitternd und nahezu gelähmt auf eine Audienz bei Leo XIII. wartet. Nun, bei Benedikt XVI. muss niemand zittern. Er macht es dem Besucher ausgesprochen leicht. Da ist kein Kirchenfürst, sondern ein Kirchendiener, ein großer Gebender, der sich in seinem Geben ganz ausschöpft. Manchmal schaut er einen ein wenig skeptisch an. So über die Brille. Ernst, aufmerksam. Und wenn man ihm so zuhört und neben ihm sitzt, dann spürt man nicht nur die Präzision seines Denkens und die Hoffnung, die aus dem Glauben kommt, sondern dann wird auf besondere Weise ein Glanz vom Licht der Welt sichtbar, vom Antlitz Jesu Christi, der jedem Menschen begegnen will und niemanden ausschließt. München, am 15. Oktober 2010 Peter Seewald Teil I ZEICHEN DER ZEIT 1 Päpste fallen nicht vom Himmel Heiliger Vater, am 16. April 2005, Ihrem 78. Geburtstag, verkündeten Sie Ihren Mitarbeitern, wie sehr Sie sich jetzt auf Ihren Ruhestand freuten. Drei Tage später waren Sie das Oberhaupt der universalen Kirche mit 1,2 Milliarden Mitgliedern. Nicht gerade eine Aufgabe, die man sich für das hohe Alter aufspart. Ich hatte eigentlich erwartet, endlich Frieden und Ruhe zu finden. Dass ich mich plötzlich dieser gewaltigen Aufgabe gegenüber sah, war, wie alle Leute wissen, ein Schock für mich. Die Verantwortung ist in der Tat ungeheuerlich. Es gab die Minute, von der Sie später sagten, Sie fühlten regelrecht ein „Fallbeil“ auf sich heruntersausen. Ja, der Gedanke an die Guillotine ist mir gekommen: Jetzt fällt sie herunter und trifft dich. Ich war mir ganz sicher gewesen, dass dieses Amt nicht meine Bestimmung ist, sondern dass Gott mir jetzt, nach anstrengenden Jahren, etwas Frieden und Ruhe gewähren wird. Ich konnte da nur sagen, mir klar machen: Der Wille Gottes ist offenbar anders, und es beginnt etwas ganz Anderes, Neues für mich. Er wird mit mir sein. Im sogenannten „Zimmer der Tränen“ liegen bei einem Konklave schon mal drei Gewänder für den künftigen Papst bereit. Eines ist lang, eines kurz, eines mittel. Was ging Ihnen in diesem Zimmer, in dem so mancher neue Pontifex schon zusammengebrochen sein soll, durch den Kopf? Fragt man sich spätestens hier noch einmal: Warum ich? Was will Gott von mir? Eigentlich ist man in diesem Moment erst einmal durch ganz praktische, äußere Dinge in Anspruch genommen. Man muss schauen, wie man mit den Gewändern zu Rande kommt, und dergleichen. Zudem wusste ich, ich werde gleich vorne auf dem Balkon einige Worte sprechen müssen, und habe begonnen zu überlegen, was ich sagen kann. Im Übrigen konnte ich schon in dem Augenblick, in dem es mich getroffen hatte, einfach zum Herrn nur sagen: „Was tust Du mit mir? Jetzt hast Du die Verantwortung. Du musst mich führen! Ich kann es nicht. Wenn Du mich gewollt hast, dann musst Du mir auch helfen!“ In diesem Sinn stand ich, sagen wir, in einem dringenden Dialogverhältnis mit dem Herrn – dass er, wenn er das eine tut, auch das andere tun muss. Wollte Johannes Paul II. Sie als seinen Nachfolger haben? Das weiß ich nicht. Ich glaube, er hat das ganz dem Lieben Gott überlassen. Immerhin hat er Sie nicht aus dem Amt gelassen. Das könnte man als argumentum e silentio verstehen, als ein stilles Argument für den Lieblingskandidaten. Er hat mich im Amt halten wollen, das ist offenkundig. Als mein 75. Geburtstag nahte, das Erreichen der Altersgrenze, an der man die Demission einreicht, hat er zu mir gesagt: „Sie brauchen den Brief gar nicht zu schreiben, denn ich will Sie bis zum Ende haben.“ Das war das große und unverdiente Wohlwollen, das er von Anfang an für mich hegte. Er hatte meine „Einführung in das Christentum“ gelesen. Das war für ihn offenbar eine wichtige Lektüre. Gleich als er Papst wurde, hat er sich vorgenommen, mich als Präfekten der Glaubenskongregation nach Rom zu berufen. Er hatte ein großes, ganz herzliches und tiefes Vertrauen in mich gesetzt. Sozusagen als die Gewähr dafür, dass wir im Glauben den richtigen Kurs fahren. Sie haben Johannes Paul II. noch auf seinem Sterbebett besucht. An jenem Abend eilten Sie von einem Vortrag aus Subiaco zurück, wo Sie über „Benedikts Europa in der Krise der Kulturen“ gesprochen hatten. Was hat Ihnen der sterbende Papst noch gesagt? Er war sehr leidend und dennoch sehr präsent. Er hat aber nichts mehr gesagt. Ich habe ihn um den Segen gebeten, den er mir gab. So sind wir mit einem herzlichen Händedruck und in dem Bewusstsein, dass es die letzte Begegnung ist, voneinander gegangen. Sie wollten nicht Bischof werden, Sie wollten nicht Präfekt werden, Sie wollten nicht Papst werden. Erschrickt man da nicht auch darüber, was einem ganz gegen den eigenen Willen immer wieder geschieht? Es ist eben so: Wenn man bei der Priesterweihe ja sagt, kann man zwar seine Idee davon haben, was das eigene Charisma sein könnte, aber man weiß auch: Ich habe mich dem Bischof und letztlich dem Herrn in die Hand gegeben. Ich kann mir nicht aussuchen, was ich will. Am Ende muss ich mich führen lassen. Ich hatte in der Tat die Idee, dass Professor der Theologie mein Charisma sei, und ich war sehr glücklich, als meine Vorstellung in Erfüllung ging. Aber es war für mich auch klar: Ich bin immer in den Händen des Herrn, und ich muss auch mit Dingen rechnen, die ich nicht gewollt habe. In diesem Sinn waren es sicher Überraschungen, plötzlich weggerissen zu werden und nicht mehr dem eigenen Weg folgen zu können. Aber wie gesagt, in dem grundlegenden Ja war auch enthalten: Ich stehe dem Herrn zur Verfügung und muss vielleicht eines Tages auch Dinge tun, die ich selber nicht möchte. Sie sind nun der mächtigste Papst aller Zeiten. Niemals zuvor hatte die katholische Kirche mehr Gläubige, noch nie eine solche Ausdehnung, buchstäblich bis zu den Enden der Welt. Natürlich sind diese Statistiken wichtig. Sie zeigen an, wie weit die Kirche verbreitet ist und wie groß diese Gemeinschaft, die Rassen und Völker, Kontinente, Kulturen, Menschen aller Art umspannt, wirklich ist. Aber der Papst hat durch diese Zahlen nicht Macht. Warum nicht? Die Art der Gemeinschaft mit dem Papst ist anders, und die Art der Zugehörigkeit zur Kirche natürlich auch. Unter den 1,2 Milliarden sind viele, die innerlich nicht mit dabei sind. Der heilige Augustinus hat schon zu seiner Zeit gesagt: Es sind viele draußen, die drinnen zu sein scheinen; und es sind viele drinnen, die draußen zu sein scheinen. Bei einer Sache wie dem Glauben, der Zugehörigkeit zur katholischen Kirche, ist Innen und Außen geheimnisvoll miteinander verwoben. Darin hatte Stalin schon Recht, dass der Papst keine Divisionen hat und nicht gebieten kann. Er hat auch kein großes Unternehmen, in dem gleichsam alle Gläubigen der Kirche seine Angestellten oder seine Untertanen wären. Insofern ist der Papst einerseits ein ganz ohnmächtiger Mensch. Andererseits steht er in einer großen Verantwortung. Er ist gewissermaßen der Anführer, der Repräsentant und zugleich der Verantwortliche dafür, dass der Glaube, der die Menschen zusammenhält, geglaubt wird, dass er lebendig bleibt und dass er in seiner Identität unangetastet ist. Aber nur der Herr selber hat die Macht, die Menschen auch im Glauben zu halten. Für die katholische Kirche ist der Papst der Vicarius Christi, der Stellvertreter Christi auf Erden. Können Sie wirklich für Jesus sprechen? Bei der Verkündigung des Glaubens und im Vollzug der Sakramente spricht jeder Priester im Auftrag Jesu Christi, für Jesus Christus. Christus hat der Kirche sein Wort anvertraut. In der Kirche lebt dieses Wort. Und wenn ich den Glauben dieser Kirche innerlich annehme und lebe, aus ihm heraus spreche und denke, wenn ich Ihn verkündige, dann spreche ich für Ihn – auch wenn natürlich in Details immer Schwächen sein können. Wichtig ist, dass ich nicht meine Ideen vortrage, sondern versuche, den Glauben der Kirche zu denken und zu leben, in Seinem Auftrag gehorsam zu handeln. Ist der Papst wirklich „unfehlbar“ in dem Sinne, wie es in den Medien zuweilen kolportiert wird? Ein absoluter Souverän, dessen Denken und Wille Gesetz sind? Das ist verkehrt. Der Begriff der Unfehlbarkeit hat sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelt. Er entstand angesichts der Frage, ob es irgendwo eine letzte Instanz gibt, die entscheidet. Das Erste Vatikanische Konzil hat, einer langen Tradition aus der Zeit der Urchristenheit folgend, schließlich festgehalten: Es gibt eine letzte Entscheidung! Es bleibt nicht alles offen! Der Papst kann in bestimmten Umständen und unter bestimmten Bedingungen letztverbindliche Entscheidungen treffen, durch die klar wird, was der Glaube der Kirche ist und was nicht. Was nicht heißt, dass der Papst ständig „Unfehlbares“ produzieren kann. Für gewöhnlich handelt der Bischof von Rom wie jeder andere Bischof auch, der seinen Glauben bekennt, der ihn verkündigt, der treu ist in der Kirche. Nur wenn bestimmte Bedingungen vorliegen, wenn die Tradition geklärt ist und er weiß, dass er jetzt nicht willkürlich handelt, kann der Papst sagen: Dies ist der Glaube der Kirche – und das Nein dazu ist nicht der Glaube der Kirche. In diesem Sinn hat das Erste Vatikanische Konzil die Fähigkeit zur Letztentscheidung definiert, damit der Glaube seine Verbindlichkeit behält. Das Petrusamt, so erklärten Sie, garantiere die Übereinstimmung mit der Wahrheit und der authentischen Tradition. Die Gemeinschaft mit dem Papst sei Voraussetzung für Rechtgläubigkeit und Freiheit. Der heilige Augustinus hatte es so ausgedrückt: „Wo Petrus ist, da ist die Kirche, und da ist auch Gott.“ Aber dieses Diktum stammt aus einer anderen Zeit, es muss heute nicht mehr gelten. Dieses Wort ist zwar nicht so und nicht von Augustinus formuliert worden, aber das können wir hier offen lassen. Jedenfalls ist es ein altes Axiom der katholischen Kirche: Wo Petrus ist, da ist die Kirche. Der Papst kann selbstverständlich verkehrte Privatmeinungen haben. Aber wenn er, wie schon gesagt, als oberster Hirte der Kirche im Bewusstsein seiner Verantwortung spricht, dann sagt er nicht mehr irgendetwas Eigenes, was ihm gerade eingefallen ist. Dann weiß er sich in dieser großen Verantwortung und zugleich auch unter dem Schutz des Herrn, dass er in einer solchen Entscheidung die Kirche nicht in die Irre führt, sondern ihre Einheit mit der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft und vor allem mit dem Herrn gewährleistet. Das ist, worum es geht, und das ist, was auch andere christliche Gemeinschaften empfinden. Aus Anlass eines Symposiums zum 80. Geburtstag Pauls VI. referierten Sie 1977 darüber, was und wie ein Papst sein sollte. Er müsse sich „als der ganz Kleine halten und verhalten“, zitierten Sie den englischen Kardinal Reginald Pole. Er müsse bekennen, „dass er nichts anderes weiß als nur das eine, was ihm von Gott, dem Vater, durch Christus gelehrt worden ist“. Vicarius Christi zu sein, sei Anwesend-Halten der Macht Christi als Gegenmacht zur Macht der Welt. Und zwar nicht in Form irgendeiner Herrschaft, sondern im Tragen der übermenschlichen Last auf den menschlichen Schultern. Insofern sei der eigentliche Ort des Vicarius Christi das Kreuz. Ja, das halte ich auch heute für richtig. Der Primat hat sich von Anfang an als Primat des Martyriums entwickelt. Rom war in den ersten drei Jahrhunderten der Vor- und Hauptort der Christenverfolgungen. Diesen Verfolgungen standzuhalten und das Zeugnis Christi zu geben, war die besondere Aufgabe des römischen Bischofssitzes. Man darf es als Sache der Vorsehung betrachten, dass sich in dem Augenblick, in dem das Christentum mit dem Staat in Frieden trat, das Kaisertum an den Bosporus nach Konstantinopel verlegte. Rom war nun gleichsam in die Provinz geraten. So konnte der Bischof von Rom leichter die Eigenständigkeit der Kirche, ihre Unterschiedenheit vom Staat herausstellen. Man muss nicht eigens den Konflikt suchen, das ist klar, sondern im Grunde den Konsens, das Verstehen anstreben. Aber immer muss die Kirche, muss der Christ, muss vor allem der Papst darauf gefasst sein, dass das Zeugnis, das er abzulegen hat, Skandal wird, nicht angenommen wird, und dass er dann in die Situation des Zeugen, des leidenden Christus hineingerückt wird. Dass die frühen Päpste alle Märtyrer waren, hat seine Bedeutung. Zum Papst gehört nicht, dass er als glorreicher Herrscher dasteht, sondern dass er für jenen Zeugnis ablegt, der gekreuzigt wurde, und dass er bereit ist, auch selbst in dieser Form, in der Bindung an Ihn, sein Amt auszuüben. Es gab allerdings auch Päpste, die sich sagten: Der Herr hat uns das Amt gegeben, jetzt wollen wir es auch genießen. Ja, auch das gehört zum Geheimnis der Papstgeschichte. Die christliche Bereitschaft zum Widerspruch durchzieht Ihre eigene Biografie wie ein stetes Webmuster. Das beginnt im Elternhaus, wo Widerstand gegen ein atheistisches System als Merkmal einer christlichen Existenz verstanden wird. Im Priesterseminar steht Ihnen ein Rektor zur Seite, der im KZ Dachau interniert war. Als Priester beginnen Sie in einer Pfarrgemeinde in München, in der Ihre beiden Vorgänger als Widerstandskämpfer von den Nazis hingerichtet wurden. Während des Konzils opponieren Sie gegen die zu engen Vorgaben der Kirchenführung. Als Bischof warnen Sie vor den Gefährdungen einer Wohlstandsgesellschaft. Als Kardinal stemmen Sie sich gegen den Umbau des christlichen Kerns durch glaubensfremde Strömungen. Haben diese Grundlinien nun auch Einfluss darauf, wie Sie Ihr Pontifikat gestalten? Natürlich bedeutet eine so lange Erfahrung auch eine Formung des Charakters, sie prägt das Denken und das Tun. Ich war natürlich nicht einfach immer nur grundsätzlich dagegen. Es gab viele schöne Situationen des Einverständnisses. Wenn ich an meine Kaplanszeit denke, war zwar schon das Aufbrechen der säkularen Welt in den Familien spürbar, aber trotzdem gab es so viel Freude im gemeinsamen Glauben, in der Schule, mit den Kindern, mit der Jugend, dass ich richtiggehend von dieser Freude getragen wurde. Und so war es auch in der Zeit, als ich Professor war. Durch mein ganzes Leben hat sich immer auch die Linie hindurchgezogen, dass Christentum Freude macht, Weite gibt. Schließlich könnte man als einer, der immer nur dagegen ist, das Leben wohl auch gar nicht ertragen. Aber gleichzeitig war immer gegenwärtig, wenn auch in unterschiedlichen Dosierungen, dass das Evangelium gegen machtvolle Konstellationen steht. Dies war in meiner Kindheit und Jugend bis zum Kriegsende natürlich besonders drastisch. Seit den 1968er Jahren geriet der christliche Glaube dann in den Gegensatz zu einem neuen Gesellschaftsentwurf, so dass er immer wieder gegen machtvoll auftrumpfende Meinungen bestehen musste. Anfeindungen zu ertragen und Widerstand zu leisten, gehört also dazu – ein Widerstand aber, der dazu dient, das Positive ins Licht zu bringen. Nach dem Annuario Pontificio, dem Jahrbuch der katholischen Kirche, errichteten Sie alleine im Jahr 2009 acht neue Bischofssitze, eine Apostolische Präfektur, zwei neue Metropolitansitze und drei Apostolische Vikariate. Die Zahl der Katholiken stieg gerade wieder um 17 Millionen, so viel wie die Einwohnerschaft Griechenlands und der Schweiz zusammen. In den fast 3000 Diözesen haben Sie 169 neue Bischöfe ernannt. Dann sind da die ganzen Audienzen, die Predigten, die Reisen, die Vielzahl von Entscheidungen – und neben all dem haben Sie auch noch ein großes Jesus-Werk geschrieben, dessen zweiter Band demnächst veröffentlicht wird. Sie sind heute 83 Jahre alt; woher nehmen Sie Ihre Kraft? Zunächst muss ich sagen, dass das, was Sie aufzählen, ein Zeichen dafür ist, wie sehr die Kirche lebt. Von Europa alleine aus betrachtet hat es den Anschein, dass sie im Niedergang ist. Aber das ist nur ein Teil des Ganzen. In anderen Erdteilen wächst und lebt sie, ist sie voller Dynamik. Die Zahl der Neupriester ist in den letzten Jahren weltweit gestiegen, auch die Zahl der Seminaristen. Wir erleben auf dem europäischen Kontinent nur eine bestimmte Seite und nicht auch die große Dynamik des Aufbruchs, die anderswo wirklich da ist und der ich auf meinen Reisen und durch die Besuche der Bischöfe immer wieder begegne. Richtig ist, dass das einen 83-jährigen Menschen eigentlich überfordert. Gott sei Dank gibt es viele gute Mitarbeiter. Alles wird in einer gemeinsamen Anstrengung erarbeitet und durchgeführt. Ich vertraue darauf, dass mir der Liebe Gott so viel Kraft gibt, wie ich brauche, damit ich das Nötige tun kann. Ich merke aber auch, dass die Kräfte nachlassen. Immerhin hat man den Eindruck, der Papst könnte einem auch als Fitnesslehrer etwas beibringen. (Papst lacht.) Ich glaube nicht. Man muss natürlich seine Zeit richtig einteilen. Und darauf achten, dass man auch genügend Ruhezeiten hat. Dass man dann in den Zeiten, in denen man gebraucht wird, entsprechend präsent ist. Kurzum: dass man den Rhythmus des Tages diszipliniert einhält und weiß, für wann man Energien braucht. Benutzen Sie eigentlich das Trimmrad, das Ihnen Ihr früherer Leibarzt Dr. Buzzonetti aufgestellt hat? Nein, ich komme gar nicht dazu – und brauche es Gott sei Dank im Moment auch nicht. Der Papst hält es also wie Churchill: no sports! Ja! Von der Seconda Loggia, der Audienzetage des Apostolischen Palastes, ziehen Sie sich für gewöhnlich ab 18 Uhr zurück, um in Ihrer Wohnung in den sogenannten „Tabellenaudienzen“ noch die wichtigsten Mitarbeiter zu empfangen. Ab 20.45 Uhr, so heißt es, ist der Papst privat. Was macht ein Papst in der Freizeit, vorausgesetzt, dass er überhaupt über eine solche verfügt? Ja, was macht er …? Natürlich muss er auch in seiner Freizeit Akten studieren und lesen. Es bleibt immer sehr viel Arbeit übrig. Aber es gibt mit der Päpstlichen Familie, den vier Frauen aus der Gemeinschaft der „Memores Domini“ und den beiden Sekretären, auch die gemeinsamen Mahlzeiten; das sind Momente der Entspannung. Sehen Sie gemeinsam fern? Die Nachrichten schaue ich mit den Sekretären an, aber wir sehen uns manchmal gemeinsam auch eine DVD an. Welche Filme mögen Sie? Da gibt es einen sehr schönen Film über die heilige Josephine Bakhita, eine Afrikanerin, den wir uns kürzlich angesehen haben. Und dann schauen wir uns gerne Don Camillo und Peppone an … … Wobei Sie vermutlich jede Folge längst auswendig kennen. (Papst lacht.) Nicht ganz. Man erlebt also den Papst auch ganz privat. Natürlich. Wir feiern zusammen Weihnachten, hören an den Festtagen Musik und tauschen uns aus. Die Namenstage werden begangen, und gelegentlich singen wir auch eine gemeinsame Vesper. Also die Feste begehen wir miteinander. Und dann sind da neben den gemeinsamen Mahlzeiten vor allem die gemeinsamen Heiligen Messen am Morgen. Das ist ein besonders wichtiger Moment, in dem wir alle vom Herrn her auf besonders konzentrierte Weise beieinander sind. Der Papst ist immer weiß gekleidet. Trägt er statt der Soutane nicht auch mal einen Freizeitpullover? Nein. Das hat mir der frühere zweite Sekretär von Papst Johannes Paul II. vermacht, Monsignore Mieczysław Mokrzycki, der mir sagte: „Der Papa hat die Soutane immer getragen, das müssen Sie auch tun.“ Die Römer staunten nicht schlecht, als sie auf dem Umzugs-Lkw Ihre Habseligkeiten sahen, mit denen Sie nach der Wahl zum 264. Nachfolger Petri aus Ihrer Wohnung in den Vatikan umgezogen sind. Haben Sie das päpstliche Appartamento mit Ihren Gebrauchtmöbeln ausgestattet? Jedenfalls mein Arbeitszimmer. Es war mir wichtig, mein Arbeitszimmer so zu haben, wie es im Laufe vieler Jahrzehnte gewachsen ist. Ich habe 1954 meinen Schreibtisch und die ersten Büchergestelle gekauft. Das ist dann allmählich angewachsen. Da drinnen sind alle meine Bücher, ich kenne jeden Winkel, und alles hat seine Geschichte. Also das Arbeitszimmer habe ich komplett mitgenommen. Die übrigen Zimmer wurden mit den päpstlichen Möbeln ausgestattet. Jemand hat herausgefunden, dass Sie offenbar an beständigen Uhrwerken hängen. Sie tragen eine Armbanduhr aus den 60er oder 70er Jahren, eine Junghans. Die gehörte meiner Schwester, die sie mir hinterlassen hat. Als sie starb, ging die Uhr an mich. Ein Papst hat noch nicht einmal eine eigene Brieftasche, geschweige denn ein Gehaltskonto. Das ist doch richtig, oder? Das ist richtig, ja. Bekommt er dann wenigstens mehr Hilfen und Tröstungen „von oben“ als, sagen wir, ein gewöhnlicher Sterblicher? Nicht nur von oben. Ich bekomme so viele Briefe von einfachen Menschen, von Ordensschwestern, von Müttern, Vätern, Kindern, in denen sie mir Mut zusprechen. Sie schreiben: „Wir beten für dich, hab keine Angst, wir mögen dich.“ Und sie fügen auch Geldgeschenke und andere kleine Geschenke bei … Der Papst bekommt Geldgeschenke? Nicht für mich persönlich, sondern damit ich anderen helfen kann. Und das rührt mich auch sehr, dass einfache Leute etwas beilegen und zu mir sagen: „Ich weiß, dass Sie so viel zu helfen haben, ich will auch ein wenig dazutun.“ Insofern kommen Tröstungen vielfältigster Art an. Da sind dann auch die Mittwochsaudienzen mit den einzelnen Begegnungen. Von alten Freunden kommen Briefe, gelegentlich auch Besuche, wobei das natürlich immer schwieriger geworden ist. Da ich immer auch den Trost „von oben“ spüre, beim Beten die Nähe des Herrn erlebe oder beim Lesen der Kirchenväter das Schöne des Glaubens aufleuchten sehe, gibt es ein ganzes Konzert von Tröstungen. Hat sich Ihr Glaube verändert, seit Sie als oberster Hirte für die Herde Christi verantwortlich sind? Manchmal hat man den Eindruck, er wäre jetzt irgendwie geheimnisvoller, mystischer geworden. Mystiker bin ich nicht. Aber richtig ist, dass man als Papst noch viel mehr Anlass hat zu beten und sich ganz Gott zu überlassen. Denn ich sehe ja, dass fast alles, was ich tun muss, etwas ist, was ich selber gar nicht kann. Schon dadurch bin ich sozusagen gezwungen, mich dem Herrn in die Hände zu geben und ihm zu sagen: „Mach Du es, wenn Du es willst!“ In diesem Sinn ist Gebet und Kontakt mit Gott jetzt noch notwendiger und auch noch natürlicher und selbstverständlicher als vorher. Profan gesprochen: Gibt es da nun einen „besseren Draht“ zum Himmel oder so etwas wie eine Amtsgnade? Ja, manchmal spürt man das schon. Im Sinne von: Jetzt habe ich etwas machen können, was gar nicht von mir selbst kam. Jetzt überlasse ich mich dem Herrn und merke: Ja, es ist eine Hilfe da, es wird etwas getan, was nicht aus mir selber ist. In dem Sinn gibt es durchaus die Erfahrung von Amtsgnade. Johannes Paul II. berichtete einmal davon, dass sein Vater ihm eines Tages ein Gebetbuch mit dem „Gebet zum Heiligen Geist“ in die Hand gedrückt hat und meinte, er solle es täglich beten. Allmählich habe er dann verstanden, was es heißt, wenn Jesus sagt, die wahren Gottesanbeter seien jene, die Gott „im Geist und in der Wahrheit“ anbeten. Was heißt das? Diese Stelle im Johannes-Evangelium, Kapitel vier, ist die Prophezeiung einer Anbetung, in der kein Tempel mehr da sein wird, sondern in der ohne äußeren Tempel gebetet wird in der Gemeinschaft des Heiligen Geistes und der Wahrheit des Evangeliums, in der Gemeinschaft mit Christus; wo man keinen sichtbaren Tempel mehr braucht, sondern die neue Gemeinschaft mit dem auferstandenen Herrn. Das bleibt immer wichtig, weil es auch religionsgeschichtlich eine große Wende bedeutet. Und wie betet Papst Benedikt? Was den Papst angeht, so ist auch er ein einfacher Bettler vor Gott – mehr noch als alle anderen Menschen. Natürlich bete ich zuallererst immer zu unserem Herrn, mit dem mich einfach sozusagen diese alte Bekanntschaft verbindet. Aber ich rufe auch die Heiligen an. Ich bin mit Augustinus, mit Bonaventura, mit Thomas von Aquin befreundet. Man sagt dann auch zu solchen Heiligen: „Helft mir!“ Und die Mutter Gottes ist ohnehin immer ein großer Bezugspunkt. In diesem Sinn gebe ich mich in die Gemeinschaft der Heiligen hinein. Mit ihnen, durch sie bestärkt, rede ich dann auch mit dem Lieben Gott, vor allem bettelnd, aber auch dankend – oder ganz einfach freudig. 2 Der Skandal des Missbrauchs Das Pontifikat Benedikts XVI. begann mit einer Welle der Begeisterung. „Seine Wahl ist eine gute Nachricht“, lobte sogar der Führer der PostKommunisten in Italien. Er habe, so Massimo D’Alema, „Sympathie für Menschen mit Intellekt und Kultur“. In seinem ersten Amtsjahr versammelte der neue Papst fast vier Millionen Menschen auf dem Petersplatz, doppelt so viele wie der Vorgänger im Anfangsjahr. Über drei Millionen Mal verkaufte sich seine erste Enzyklika allein in Italien. Beim Weltfamilientag im spanischen Valencia strömte eine Million Menschen zusammen, um mit dem Papst gemeinsam zu beten und zu feiern. Und der Zuspruch hielt an. „Seit dem Habemus Papam am 19. April in Rom“, so meldete Der Spiegel, „reißt das Wohlwollen in der Öffentlichkeit für Papst Benedikt XVI. alias Joseph Ratzinger nicht ab.“ Hat Sie der Erfolg überrascht oder vielleicht sogar erschreckt? Ja, in einer Hinsicht schon. Aber ich wusste: Das kommt nicht von mir. Es wurde sichtbar, dass die Kirche lebendig ist. Durch das Leiden von Johannes Paul II. und seinen Tod war sozusagen die ganze Kirche, ja, die Menschheit betroffen. Wir erinnern uns alle daran, wie der ganze Petersplatz, wie ganz Rom voller Menschen war. Damit wurde gewissermaßen ein neues Bewusstsein für Papst und Kirche geschaffen, das selbstverständlich auch die Frage auslöste: Wer ist der Neue? Wie kann einer – nach diesem großen Papst – es anpacken, so dass man ihm zuhören, ihn kennen lernen will? Es gibt also immer auch den Vorschuss des Neuen, des anderen Stils. Insofern war ich dankbar und froh, dass es weiterging, dass die Zustimmung blieb. Zugleich war ich überrascht, dass sie so groß und so lebendig war. Aber mir war auch klar: Dies kommt aus der inneren Kontinuität mit dem vorangegangenen Pontifikat und aus der bleibenden Lebendigkeit der Kirche. Vier Jahre lang sind Sie, was eine uralte Formel als feliciter regnans bezeichnet, glücklich regierend: Der neue Papst erweitert durch Wiederzulassung der tridentinischen Messe den liturgischen Raum. Er verkündet im Rahmen der Ökumene das Ziel der vollen Einheit mit der Orthodoxie, dem die Kirche nun so nahe kommt wie seit tausend Jahren nicht mehr. Er könnte Mitglied bei den Grünen sein mit seiner Haltung gegen Umweltsünder, Unrecht und Krieg. Er würde gut zur Linken passen, wie er den Turbokapitalismus geißelt, die immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich. Zu spüren ist eine Revitalisierung der Kirche, ein neues Selbstbewusstsein. Und Ihnen gelingt, was nach einem Giganten wie Wojtyła niemand für möglich hielt: ein bruchloser Übergang der Pontifikate. Das war natürlich ein Geschenk. Geholfen hat, dass alle wussten, dass Johannes Paul II. mich mochte, dass wir in einem tiefen inneren Einvernehmen standen. Und dass ich mich ihm gegenüber wirklich auch als Schuldner weiß, der mit seiner bescheidenen Gestalt weiterzuführen versucht, was Johannes Paul II. als Riese getan hat. Natürlich gibt es neben den Dingen, durch die wir Widerspruch hervorrufen und im Kreuzfeuer der Kritik stehen, immer auch Themen, die der ganzen Welt am Herzen liegen und von ihr positiv aufgenommen werden. Mein Vorgänger hat als großer Vorkämpfer für die Menschenrechte, für den Frieden, für die Freiheit immer wieder auch große Zustimmung gefunden. Diese Themen sind geblieben. Der Papst ist gerade heute dazu verpflichtet, für die Menschenrechte überall einzutreten – als innere Folge seines Glaubens an die Gottebenbildlichkeit des Menschen und an seine göttliche Berufung. Er ist dazu verpflichtet, für den Frieden zu kämpfen, gegen Gewalttätigkeit und gegen die Kriegsdrohungen. Er ist von innen her dazu verpflichtet, dass er um die Erhaltung der Schöpfung ringt, dass er der Zerstörung der Schöpfung entgegentritt. So gibt es von Natur aus viele Themen, in denen sozusagen die Moralität der Modernität liegt. Die Modernität ist ja nicht nur aus Negativem aufgebaut. Wenn dies der Fall wäre, könnte sie nicht lange bestehen. Sie trägt große moralische Werte in sich, die gerade auch vom Christentum kommen, die durch das Christentum erst als Werte in das Bewusstsein der Menschheit gerückt wurden. Wo sie vertreten werden – und sie müssen vom Papst vertreten werden –, gibt es Zustimmung über weite Bereiche hin. Darüber freuen wir uns. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es andere Themen gibt, die Widerspruch erregen. Der liberale Münchner Theologe Eugen Biser zählt Sie in dieser Zeit bereits „zu den bedeutendsten Päpsten der Geschichte“. Mit Benedikt XVI. beginne eine Kirche, bei der Christus durch die Einladung zur Gotteserfahrung „in den Herzen der Menschen wohnt“. Aber plötzlich wendet sich das Blatt. Wir erinnern uns an Ihre Predigt zur Amtseinführung am 24. April 2005, in der Sie sagten: „Betet für mich, dass ich nicht furchtsam vor den Wölfen fliehe.“ Hatten Sie geahnt, dass dieses Pontifikat auch sehr schwierige Strecken für Sie bereithalten wird? Das hatte ich vorausgesetzt. Aber zunächst einmal sollte man mit Einordnungen eines Papstes, ob er bedeutend oder unbedeutend ist, zu seinen Lebzeiten immer sehr zurückhaltend sein. Erst später sieht man, welchen Rang etwas oder jemand in der Geschichte im Ganzen einnimmt. Aber dass es nicht immer bei heiterer Zustimmung bleiben konnte, war angesichts unserer Weltkonstellation mit all den großen Zerstörungskräften, die es gibt, mit den Gegensätzen, die in ihr leben, den Bedrohungen und Irrwegen, offenkundig. Bei ausschließlicher Zustimmung hätte ich mich ernsthaft fragen müssen, ob ich wirklich das ganze Evangelium verkündige. Die Rücknahme der Exkommunikation von vier Bischöfen der Piusbruderschaft im Januar 2009 ist ein erster Bruch. Wir werden noch eingehend darauf zu sprechen kommen, auch auf die merkwürdigen Hintergründe dieses Falles. Mit einem Mal gilt der zuvor so Hochgelobte, von dem es hieß, er habe regelrecht ein „Benedetto-Fieber“ ausgelöst, nun als „Papst ohne Fortune“, jemand, der die halbe Welt gegen sich aufbringt. Die Kommentare sind katastrophal. Die „Neue Zürcher Zeitung“ sieht sich angesichts einer unvergleichlichen antipäpstlichen Medienkampagne veranlasst, von „aggressiver Ahnungslosigkeit“ der Journalisten zu sprechen. Der jüdische französische Philosoph Bernard-Henri Lévy merkt an, sobald die Rede auf Benedikt XVI. komme, beherrschten nun „Vorurteile, Unaufrichtigkeit und sogar die glatte Desinformation jede Diskussion.“ War die Rücknahme der Exkommunikation ein Fehler? Hier muss vielleicht zur Rücknahme der Exkommunikation selbst etwas gesagt werden. Denn da ist unglaublich viel Unsinn verbreitet worden, auch von gelehrten Theologen. Es ist nicht so, dass diese vier Bischöfe, wie vielfach unterstellt wurde, wegen ihrer negativen Haltung zum Zweiten Vatikanum exkommuniziert wurden. Sie waren in Wirklichkeit exkommuniziert, weil sie die Bischofsweihe ohne päpstlichen Auftrag empfangen hatten. Es wurde also nach dem hierfür geltenden Kanon gehandelt, der bereits im alten Kirchenrecht stand. Danach werden jene mit der Exkommunikation belegt, die ohne päpstlichen Auftrag andere zu Bischöfen weihen, und auch diejenigen, die sich so weihen lassen. Sie waren also exkommuniziert, weil sie gegen den Primat verstoßen hatten. Es gibt eine analoge Situation in China, wo ebenfalls Bischöfe ohne päpstlichen Auftrag geweiht und daher exkommuniziert wurden. Nun ist es so: Wenn ein solcher Bischof sowohl die Anerkennung des Primates im Allgemeinen als auch des amtierenden Papstes im Besonderen erklärt, wird seine Exkommunikation zurückgenommen, weil sie nicht mehr begründet ist. So machen wir das in China – und hoffen, dadurch langsam das Schisma aufzulösen –, und so verfuhren wir auch in den hier betroffenen Fällen. Kurz: Aus dem einzigen Grund, dass sie ohne päpstlichen Auftrag geweiht worden waren, wurden sie exkommuniziert; und aus dem einzigen Grund, dass sie nun eine Anerkennung des Papstes aussprachen – wenn sie ihm auch noch nicht in allen Punkten folgen –, wurde ihre Exkommunikation zurückgenommen. Das ist an sich ein ganz normaler rechtlicher Vorgang. Wobei ich sagen muss, dass hier unsere Pressearbeit versagt hat. Es wurde nicht genügend erklärt, warum diese Bischöfe exkommuniziert worden waren und warum sie nun, schon aus rein rechtlichen Gründen, von der Exkommunikation losgesprochen werden mussten. In der Öffentlichkeit entstand der Eindruck, mit rechtskonservativen Gruppierungen gehe Rom sehr nachsichtig um, während linke und liberale Protagonisten schnell mundtot gemacht würden. Hier ging es einfach um eine klare rechtliche Situation. Das Zweite Vatikanum war überhaupt nicht im Spiel. Auch nicht die Frage sonstiger theologischer Positionen. Mit der Anerkennung des Primates des Papstes waren diese Bischöfe rechtlich gesehen von der Exkommunikation zu befreien, ohne dass sie dadurch Ämter in der Kirche erhalten hätten oder etwa ihre Position, die sie zum Zweiten Vatikanischen Konzil einnehmen, akzeptiert worden wäre. Es gibt keine unterschiedlichen Behandlungen von, sagen wir einmal, rechten oder linken Gruppierungen? Nein. Alle sind an das gleiche kirchliche Recht und an den gleichen Glauben gebunden und haben die gleichen Freiheiten. Auf den Fall Williamson werden wir noch ausführlich zurückkommen. Genau ein Jahr später ziehen sich über der katholischen Kirche die dunkelsten Wolken zusammen. Wie aus einem tiefen Schlund kommen aus der Vergangenheit unzählbare und unfassbare Fälle sexuellen Missbrauchs ans Licht – begangen von Priestern und Ordensleuten. Die Wolken werfen ihre Schatten auch auf den Stuhl Petri. Von einer moralischen Instanz für die Welt, die einem Papst für gewöhnlich zugestanden wird, spricht nun niemand mehr. Wie groß ist diese Krise? Ist sie, wie gelegentlich zu lesen war, wirklich eine der größten in der Geschichte der Kirche? Ja, es ist eine große Krise, das muss man sagen. Es war für uns alle erschütternd. Plötzlich so viel Schmutz. Es war wirklich fast wie ein Vulkankrater, aus dem plötzlich eine gewaltige Schmutzwolke herauskam, alles verdunkelte und verschmutzte, so dass vor allen Dingen das Priestertum plötzlich als ein Ort der Schande erschien und jeder Priester unter dem Verdacht stand, er sei auch so einer. Manche Priester erklärten, sie trauten sich gar nicht mehr, einem Kind die Hand zu geben, geschweige denn mit Kindern ein Ferienlager zu machen. Die Sache kam für mich nicht ganz unerwartet. Ich hatte schon in der Glaubenskongregation mit den amerikanischen Fällen zu tun; ich hatte auch die Situation in Irland heraufsteigen sehen. Aber in dieser Größenordnung war es trotzdem ein unerhörter Schock. Seit meiner Wahl auf den Stuhl Petri hatte ich mich bereits mehrfach mit Opfern sexuellen Missbrauchs getroffen. Dreieinhalb Jahre zuvor, im Oktober 2006, hatte ich in meiner Ansprache an die Bischöfe von Irland gefordert, die Wahrheit ans Licht zu bringen, alles Notwendige zu tun, damit sich derartige ungeheuerliche Verbrechen nicht wiederholen, die Prinzipien von Recht und Gerechtigkeit zu achten und, vor allem, den Opfern Heilung zu bringen. Das Priestertum plötzlich so verschmutzt zu sehen, und damit die katholische Kirche selbst, in ihrem Innersten, das musste man wirklich erst verkraften. Aber es galt, nicht zugleich den Blick dafür zu verlieren, dass es in der Kirche das Gute gibt und nicht nur diese schrecklichen Dinge. Die Missbrauchsfälle im kirchlichen Bereich sind schlimmer als anderswo. Wer höhere Weihen hat, muss auch höheren Anforderungen genügen. Bereits zu Anfang des Jahrhunderts war, wie Sie sagten, eine Reihe von Missbrauchsfällen in den USA bekannt. Nachdem der Ryan-Report auch in Irland das ungeheure Ausmaß von sexuellem Missbrauch offenlegte, stand die Kirche in einem weiteren Land vor einem Scherbenhaufen. „Es wird Generationen dauern“, sagt der irische Ordenspriester Vincent Twomey, „um das wieder in Ordnung zu bringen.“ In Irland stellt sich das Problem ganz spezifisch dar – da ist sozusagen eine geschlossene katholische Gesellschaft, die ihrem Glauben trotz jahrhundertelanger Unterdrückung immer treu blieb, in der dann offenbar aber auch bestimmte Haltungen heranwachsen konnten. Ich kann das jetzt nicht im Einzelnen analysieren. Ein Land, das der Welt so viele Missionare, so viele Heilige gegeben hat, das in der Missionsgeschichte am Ursprung auch unseres Glaubens in Deutschland steht, nun in einer solchen Situation zu sehen, ist ungeheuer erschütternd und bedrückend. Vor allem natürlich für die Katholiken in Irland selbst, wo es nach wie vor viele gute Priester gibt. Wie das geschehen konnte, das müssen wir ausgiebig prüfen, gleichzeitig auch, was man tun kann, damit so etwas nicht wieder geschieht. Sie haben Recht: Es ist eine besonders schwere Sünde, wenn jemand, der eigentlich den Menschen zu Gott helfen soll, dem sich ein Kind, ein junger Mensch anvertraut, um den Herrn zu finden, ihn stattdessen missbraucht und vom Herrn wegführt. Dadurch wird der Glaube als solcher unglaubwürdig, kann sich die Kirche nicht mehr glaubhaft als Verkünderin des Herrn darstellen. Das alles hat uns schockiert und erschüttert mich nach wie vor bis ins Innerste. Doch der Herr hat uns auch gesagt, dass es im Weizen das Unkraut geben wird, aber dass die Saat, Seine Saat, dennoch weiterwachsen wird. Darauf vertrauen wir. Es ist nicht nur der Missbrauch, der erschüttert, es ist auch der Umgang damit. Die Taten selbst wurden über Jahrzehnte verschwiegen und vertuscht. Eine Bankrotterklärung für eine Institution, die sich die Liebe auf ihr Banner geschrieben hat. Dazu hat mir der Erzbischof von Dublin etwas sehr Interessantes gesagt. Er sagte, dass das kirchliche Strafrecht bis in die späten 50er Jahre hinein funktioniert hat; es war zwar nicht vollkommen – vieles ist daran zu kritisieren –, aber immerhin: Es wurde angewandt. Doch seit der Mitte der 60er Jahre wurde es einfach nicht mehr angewandt. Es herrschte das Bewusstsein, die Kirche dürfe nicht Rechtskirche, sondern müsse Liebeskirche sein; sie dürfe nicht strafen. So war das Bewusstsein dafür, dass Strafe ein Akt der Liebe sein kann, erloschen. Damals kam es auch bei ganz guten Leuten zu einer merkwürdigen Verdunkelung des Denkens. Heute müssen wir wieder neu erlernen, dass die Liebe zu dem Sünder und die Liebe zu dem Geschädigten dadurch im rechten Ausgleich stehen, dass ich den Sünder in der Form bestrafe, die möglich und die angemessen ist. Insofern gab es in der Vergangenheit eine Bewusstseinsveränderung, durch die eine Verdunkelung des Rechts und der Notwendigkeit von Strafe eingetreten ist – letztendlich auch eine Verengung des Begriffs von Liebe, die eben nicht nur Nettigkeit und Artigkeit ist, sondern die in der Wahrheit ist. Und zur Wahrheit gehört auch, dass ich denjenigen strafen muss, der gegen die wirkliche Liebe gesündigt hat. In Deutschland kam die Lawine aufgedeckter Missbräuche in Gang, weil die Kirche nun selbst an die Öffentlichkeit ging. Ein Jesuitenkolleg in Berlin meldete erste Fälle, aber sehr schnell wurden auch aus anderen Einrichtungen Verbrechen bekannt, und nicht nur aus katholischen. Warum aber waren die Enthüllungen aus Amerika und Irland nicht zum Anlass genommen worden, sofort auch in anderen Ländern zu recherchieren, sich mit Opfern in Verbindung zu setzen – um damit eben auch Täter auszuschalten, die womöglich noch immer am Werk waren? Wir haben auf die Sache in Amerika sofort mit erneuerten, verschärften Normen reagiert. Zudem wurde die Zusammenarbeit zwischen der weltlichen und der kirchlichen Justiz verbessert. Ob es dann Aufgabe Roms gewesen wäre, allen Ländern eigens zu sagen: Schaut, ob es auch bei euch so ist? Vielleicht hätten wir das tun sollen. Für mich jedenfalls war es eine Überraschung, dass der Missbrauch auch in Deutschland in dieser Größenordnung existierte. Dass Zeitungen und Fernsehen intensiv über solche Dinge berichten, liegt im Dienst einer unverzichtbaren Aufklärung. Die ideologisch gefärbte Einseitigkeit und Aggressivität mancher Medien nahm hier allerdings die Form eines Propagandakrieges an, der jegliches Maß vermissen ließ. Der Papst stellte ungeachtet dessen klar: „Die größte Verfolgung der Kirche kommt nicht von den äußeren Feinden, sondern erwächst aus der Sünde in der Kirche selbst.“ Dass nicht nur der reine Wille zur Wahrheit diese Presseaufklärung geleitet hat, sondern dass es auch eine Freude gab, die Kirche bloßzustellen und möglichst zu diskreditieren, war nicht zu übersehen. Aber dessen ungeachtet musste immer klar bleiben: Soweit es Wahrheit ist, müssen wir für jede Aufklärung dankbar sein. Die Wahrheit, verbunden mit der richtig verstandenen Liebe, ist der Wert Nummer eins. Und schließlich hätten die Medien nicht in dieser Weise berichten können, wenn es nicht in der Kirche selbst das Böse gäbe. Nur weil in der Kirche das Böse war, konnte es von anderen gegen sie ausgespielt werden. Ernst-Wolfgang Böckenförde, ein früherer deutscher Verfassungsrichter, meinte: „Die Worte, die Papst Benedikt vor Jahren in den USA und jetzt in seinem Brief an die irischen Katholiken gebraucht hat, könnten nicht schärfer sein.“1 Der eigentliche Grund für die jahrzehntelange Fehlentwicklung liege im tief verwurzelten Handeln nach Kirchenraison. Das Wohl und Ansehen der Kirche stehe eben über allem. Das Wohl der Opfer hingegen trete wie von selbst in den Hintergrund, obwohl sie doch eigentlich zuallererst des Schutzes der Kirche bedürftig seien. Die Analyse ist natürlich nicht leicht. Was heißt Kirchenraison? Warum hat man früher nicht in der gleichen Weise reagiert wie heute? Auch die Presse hat früher solche Dinge nicht aufgegriffen, das Bewusstsein war damals ein anderes. Wir wissen, dass gerade auch die Opfer selbst große Scham empfinden und nicht unbedingt sofort ans Licht gezerrt werden wollen. Viele waren erst nach Jahrzehnten fähig, sich darüber zu äußern, was ihnen geschehen ist. Wichtig ist, dass man als Erstes sich der Opfer annimmt und alles tut, um ihnen zu helfen und heilend zur Seite zu stehen; zweitens, dass man solche Taten durch eine rechte Auswahl von Priesterkandidaten verhindert, so gut es geht; und drittens, dass die Täter bestraft und von jeder Möglichkeit ausgeschlossen werden, die Taten zu wiederholen. Wie weit die Fälle dann öffentlich gemacht werden müssen, das ist, so glaube ich, eine eigene Frage, die auch in verschiedenen Bewusstseinsphasen der Öffentlichkeit unterschiedlich beantwortet werden wird. Es darf aber nie geschehen, dass man sich wegstiehlt und es nicht gesehen haben will und die Täter weitermachen lässt. Notwendig ist also Wachsamkeit der Kirche, Strafe für den, der gefehlt hat, und vor allen Dingen Ausschluss vom weiteren Zugang zu Kindern. Ganz vorne steht, wie gesagt, die Liebe zu den Opfern, das Bemühen, ihnen alles Gute zu tun, um ihnen zu helfen, das Erlebte zu verarbeiten. Sie hatten sich bei verschiedenen Gelegenheiten zu den Missbrauchsfällen geäußert, nicht zuletzt in dem gerade angesprochenen Hirtenbrief an die Katholiken Irlands. Dennoch gab es nicht aufhören wollende Schlagzeilen wie „Papst schweigt zu Missbrauchsfällen“, „Papst hüllt sich in Schweigen“, „Papst Benedikt schweigt zu Missbrauchsskandalen in der katholischen Kirche“. Hätte man einiges nicht noch häufiger, nicht noch lauter sagen müssen in einer so lauten, schwerhörig gewordenen Welt? Das kann man sich natürlich fragen. An sich, so denke ich, war alles Wesentliche gesagt. Denn was für Irland galt, war ja nicht nur zu Irland gesagt. Insofern war das Wort der Kirche und des Papstes völlig klar, unzweifelhaft und überall zu vernehmen. In Deutschland mussten wir zunächst auch den Bischöfen das Wort lassen. Aber man kann immer fragen, ob der Papst nicht noch öfter reden muss. Das würde ich jetzt nicht zu entscheiden wagen. Aber letztlich müssen Sie es ja entscheiden. Eine bessere Kommunikation hätte der Situation womöglich gutgetan. Ja, das ist richtig. Aber ich meine, dass einerseits das Wesentliche wirklich gesagt wurde. Und dass das nicht nur für Irland gilt, war eigentlich klar. Andererseits gehört die Stimme, wie schon gesagt, zuerst den Bischöfen. Insofern war es wohl nicht verkehrt, etwas abzuwarten. Das Gros dieser Vorfälle liegt Jahrzehnte zurück. Dennoch belasten sie nun speziell Ihr Pontifikat. Haben Sie an Rücktritt gedacht? Wenn die Gefahr groß ist, darf man nicht davonlaufen. Deswegen ist das sicher nicht der Augenblick, zurückzutreten. Gerade in so einem Augenblick muss man standhalten und die schwere Situation bestehen. Das ist meine Auffassung. Zurücktreten kann man in einer friedlichen Minute, oder wenn man einfach nicht mehr kann. Aber man darf nicht in der Gefahr davonlaufen und sagen, es soll ein anderer machen. Es ist also eine Situation vorstellbar, in der Sie einen Rücktritt des Papstes für angebracht halten? Ja. Wenn ein Papst zur klaren Erkenntnis kommt, dass er physisch, psychisch und geistig den Auftrag seines Amtes nicht mehr bewältigen kann, dann hat er ein Recht und unter Umständen auch eine Pflicht, zurückzutreten. Wer in jenen Tagen die Massenmedien verfolgte, musste den Eindruck haben, die katholische Kirche sei ein einziges System von Unrecht und sexuellen Vergehen. Es gebe, so hieß es wie aus der Pistole geschossen, einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen katholischer Sexuallehre, Zölibat und Missbrauch. In den Hintergrund geriet, dass es in nicht-katholischen Einrichtungen ähnliche Vorfälle gab. Aus dem Mitarbeiterkreis der katholischen Kirche, so der Kriminologe Christian Pfeiffer, kämen etwa 0,1 Prozent der Missbrauchstäter; 99,9 Prozent stammten aus anderen Bereichen. In den USA liegt nach einem US-Regierungsbericht für das Jahr 2008 der Anteil der Priester, die in Pädophilie-Fälle verwickelt waren, bei 0,03 Prozent. Die protestantische Publikation „Christian Science Monitor“ veröffentlichte eine Studie, der zufolge die protestantischen Kirchen Amerikas in einem weit höheren Anteil von Pädophilie betroffen sind. Wird die katholische Kirche beim Thema Missbrauch anders beobachtet und anders bewertet? Sie haben eigentlich die Antwort schon gegeben. Wenn man die wirklichen Proportionen sieht, dann berechtigt uns das zwar nicht dazu, wegzuschauen oder zu minimalisieren. Aber dann müssen wir auch festhalten, dass es sich bei diesen Dingen um kein Spezifikum des katholischen Priestertums oder der katholischen Kirche handelt. Sie sind leider einfach in der sündigen Situation des Menschen verankert, die auch in der katholischen Kirche da ist und zu diesen schrecklichen Ergebnissen führte. Es ist allerdings auch wichtig, nun nicht zugleich all das Gute, das durch die Kirche geschieht, aus dem Auge zu verlieren. Nicht mehr zu sehen, wie vielen Menschen geholfen wird im Leiden, wie vielen Kranken, wie vielen Kindern beigestanden wird, wie viel Hilfe geleistet wird. Ich denke, so wenig wir das Böse minimieren dürfen, so sehr wir es leidend anerkennen müssen, so sehr müssen wir doch auch dankbar sein und sichtbar machen, wie viel Licht von der katholischen Kirche ausströmt. Es würde zu einem Kollaps ganzer Lebensräume führen, wenn sie nicht mehr da wäre. Und dennoch fällt es vielen schwer, in diesen Tagen an der Kirche festzuhalten. Können Sie nachvollziehen, dass Menschen aus Protest mit ihrem Austritt antworten? Das kann ich nachvollziehen. Ich denke natürlich vor allen Dingen an die Opfer selbst. Dass es ihnen schwer fällt, noch zu glauben, dass die Kirche Quelle des Guten ist, dass sie das Licht Christi vermittelt, dass sie leben hilft – das kann ich verstehen. Und andere, die eben nur diese Negativwahrnehmungen haben, sehen dann auch nicht mehr das Ganze, Lebendige der Kirche. Umso mehr muss sie sich darum bemühen, dass dieses Lebendige und Große wieder sichtbar wird, trotz all des Negativen. Sie hatten als Präfekt der Glaubenskongregation unmittelbar nach Bekanntwerden der Missbrauchsfälle in den USA Richtlinien erlassen, wie mit diesen Fällen umzugehen sei. Darin geht es auch um die Zusammenarbeit mit den staatlichen Strafverfolgungsbehörden und weiterführende Präventivmaßnahmen. Jegliche Vertuschung sollte verhindert werden. Die Richtlinien wurden 2003 noch einmal verschärft. Welche Konsequenzen zieht der Vatikan aus den neu bekanntgewordenen Fällen? Diese Richtlinien wurden jetzt noch einmal neu überarbeitet und vor kurzem in letzter Fassung herausgebracht. Immer in Fortführung der gemachten Erfahrungen, um noch besser, genauer und richtiger auf diese Situation reagieren zu können. Das Strafrecht allein reicht hier allerdings nicht aus. Denn die eine Sache ist, die Fälle rechtlich richtig zu behandeln. Die andere Sache ist, dafür zu sorgen, dass sie möglichst nicht mehr passieren. Wir haben zu diesem Zweck in Amerika eine große Visitation der Seminare machen lassen. Hier gab es offenbar auch Unterlassungen, so dass man nicht genau genug den jungen Menschen nachgegangen ist, die zwar eine besondere Begabung für die Jugendarbeit und auch eine religiöse Veranlagung zu haben schienen, bei denen man aber hätte erkennen müssen, dass sie nicht für das Priestertum geeignet sind. Die Prävention ist also ein wichtiger Sektor. Hinzu kommt die Notwendigkeit einer positiven Erziehung zur richtigen Keuschheit und zum richtigen Umgang mit der eigenen Sexualität und der des anderen. Da ist sicher auch theologisch viel zu entfalten und das entsprechende Klima zu entwickeln. Und dann müsste natürlich immer auch die ganze Glaubensgemeinschaft bei den Berufungen mitdenken und mithandeln und achtsam sein auf die einzelnen Menschen. Sie einerseits führen und tragen – und andererseits auch den Oberen helfen zu erkennen, ob Personen geeignet sind oder nicht. Es muss also ein ganzes Bündel von Maßnahmen sein, einerseits präventiv, andererseits reaktiv – und schließlich positiv im Schaffen eines geistigen Klimas, in dem diese Dinge beseitigt, überwunden und möglichst ausgeschlossen werden können. Sie trafen zuletzt in Malta mehrere Missbrauchsopfer. Einer von ihnen, Joseph Magro, sagte hinterher: „Der Papst hat zusammen mit mir geweint, obwohl er keine Schuld an dem hat, was mir zugestoßen ist.“ Was konnten Sie den Opfern sagen? Ich konnte ihnen eigentlich gar nichts Besonderes sagen. Ich konnte ihnen sagen, dass es mich im Innersten trifft. Dass ich mit ihnen leide. Und das war nicht nur eine Phrase, sondern das geht mir wirklich zu Herzen. Und ich konnte ihnen sagen, dass die Kirche alles tun wird, damit dies nicht wieder geschieht, und dass wir ihnen helfen wollen, so gut wir können. Und endlich, dass wir sie in unserem Gebet tragen und sie bitten, dass sie den Glauben an Christus als das wahre Licht und an die lebendige Gemeinschaft der Kirche nicht verlieren. Vgl. die Auszüge aus dem Hirtenbrief Benedikts XVI. an die irische Kirche vom 19. März 2010 im Anhang dieses Bandes. 3 Ursachen und Chancen der Krise Unvergesslich bleibt Ihre Anklage am Kreuzweg des Karfreitags 2005, wenige Wochen, bevor Sie zum Nachfolger Johannes Pauls II. gewählt werden sollten: „Wie oft feiern wir nur uns selbst und nehmen Ihn gar nicht wahr? Wie oft wird Sein Wort verdreht und missbraucht?“ Und wie schon auf die Ereignisse der nahen Zukunft gerichtet: „Wie viel Schmutz gibt es in der Kirche und gerade auch unter denen, die im Priestertum ihm ganz zugehören sollten?“ Nun kommen ausgerechnet in dem von Ihnen ausgerufenen Priesterjahr diese ganzen Versäumnisse und Verbrechen ans Licht. Ist biblisch gesehen vielleicht nicht auch die Enthüllung dieser Skandale selbst als Zeichen zu begreifen? Man könnte nun meinen, der Teufel konnte das Priesterjahr nicht leiden und hat uns daher den Schmutz ins Gesicht geworfen. Als hätte er der Welt zeigen wollen, wie viel Schmutz es gerade auch unter den Priestern gibt. Andererseits könnte man sagen, der Herr wollte uns prüfen und uns zu einer tieferen Reinigung rufen, so dass wir das Priesterjahr nicht triumphalistisch begehen, als Selbstrühmung, sondern als Jahr der Reinigung, der inneren Erneuerung, der Verwandlung und vor allem der Buße. Der Begriff Buße, der zu den Grundelementen der alttestamentlichen Botschaft gehört, ist uns zunehmend abhanden gekommen. Man wollte irgendwie nur noch das Positive sagen. Aber das Negative existiert eben, es ist ein Faktum. Dass man durch Buße ändern und sich ändern lassen kann, ist eine positive Gabe, ein Geschenk. So hat es auch die Alte Kirche gesehen. Es gilt, nun im Geist der Buße wirklich neu anzufangen – und gleichzeitig die Freude am Priestertum nicht zu verlieren, sondern neu zu gewinnen. Und ich darf mit großer Dankbarkeit sagen: So ist es auch geschehen. Ich habe von Bischöfen, Priestern und Laien viele erschütternde, bewegende Zeugnisse der Dankbarkeit für das Priesterjahr bekommen, die einem zu Herzen gehen. Diese Menschen bezeugen: Wir haben das Priesterjahr als Anlass zur Reinigung aufgefasst, als Akt der Demut, indem wir wieder neu uns vom Herrn her rufen lassen. Und wir haben gerade dadurch auch wieder die Größe und Schönheit des Priestertums gesehen. In diesem Sinn, denke ich, waren diese schrecklichen Enthüllungen doch auch ein Akt der Vorsehung, der uns demütigt, der uns zwingt, wieder neu anzufangen. Die Ursachen für den Missbrauch sind komplex. Fassungslos fragt man sich vor allem: Wie kann sich auf diese furchtbare Weise ausgerechnet jemand vergehen, der doch tagtäglich das Evangelium liest und die Heilige Messe feiert, der sich den Sakramenten aussetzt und von ihnen ja eigentlich gestärkt sein sollte? Das ist eine Frage, die wirklich das „mysterium iniquitatis“, das Geheimnis des Bösen, berührt, wo man sich auch fragt: Was denkt sich so jemand, wenn er am Morgen an den Altar geht und das heilige Opfer feiert? Geht er eigentlich zur Beichte? Was sagt er in der Beichte? Welche Folgen hat diese Beichte bei ihm? Sie müsste doch eigentlich das große Instrument sein, das ihn wieder herausreißt und ihn nötigt, anders zu werden. Es ist ein Geheimnis, dass jemand, der sich dem Heiligen verschrieben hat, es so völlig verliert, und dann, ja, seine Ursprünge verlieren kann. Er muss doch zumindest bei der Priesterweihe eine Sehnsucht nach dem Großen, nach dem Reinen gehabt haben, sonst hätte er diese Wahl nicht getroffen. Wie kann jemand dann so abstürzen? Wir wissen es nicht. Aber umso mehr bedeutet es, dass die Priester sich gegenseitig tragen müssen, sich nicht aus dem Auge verlieren dürfen; dass die Bischöfe die Verantwortung dafür haben, und dass wir die Gläubigen anflehen müssen, ihre Priester auch mitzutragen. Und ich sehe in den Pfarreien, dass die Liebe zum Priester auch wächst, indem man seine Schwächen erkennt und sich zur Aufgabe macht, ihm in diesen Schwächen zu helfen. Vielleicht haben wir teils auch ein ganz falsches Bild von der Kirche. Als könnte sie frei sein von solchen Dingen; und als wäre nicht auch sie den Versuchungen ausgesetzt, und gerade sie. Ich darf noch einmal aus Ihrer Kreuzwegandacht zitieren: „Das verschmutzte Gewand und Gesicht Deiner Kirche erschüttert uns. Aber wir selber sind es doch, die sie verschmutzen … Wir ziehen Dich mit unserem Fall zu Boden, und Satan lacht, weil er hofft, dass Du von diesem Fall nicht wieder aufstehen kannst, dass Du, in den Fall deiner Kirche hineingezogen, selber als Besiegter am Boden bleibst.“ Ja, das ist es, was wir heute mit eigenen Augen sehen können, und was sich einem insbesondere in der Kreuzwegbetrachtung aufdrängt. Hier wird deutlich, dass Christus nicht aufgrund irgendwelcher Zufälle litt, sondern wirklich die ganze Geschichte des Menschen in die Hand genommen hat. Sein Leiden für uns ist nicht bloß eine theologische Formel. Dies zu sehen und uns dann von Ihm auf Seine Seite ziehen zu lassen und nicht auf die andere Seite, ist ein existenzieller Akt. In der Kreuzwegandacht nehmen wir wahr: Er leidet wirklich für uns. Und er hat auch meine Sache an sich genommen. Jetzt zieht er mich zu sich, indem er mich in meiner Tiefe aufsucht und zu sich hinaufholt. Das Böse wird auch immer zum Geheimnis der Kirche gehören. Und wenn man sieht, was Menschen, was Kleriker alles in der Kirche gemacht haben, dann ist das geradezu ein Beweis dafür, dass Er die Kirche hält und gegründet hat. Wenn sie nur von den Menschen abhinge, wäre sie längst zugrunde gegangen. Das Gros der Missbrauchsfälle ist in den 70er und 80er Jahren zu verzeichnen. Der Präfekt der Kongregation für die Ordensleute, Kardinal Franc Rodé, verwies in dem Zusammenhang auch auf den langjährigen Verfall des Glaubens und die Aushöhlung der Kirche, die mit für die Skandale ursächlich seien. „Die säkularisierte Kultur ist in einige westliche Orden eingedrungen“, so Rodé, „und dabei sollte gerade das Ordensleben eine Alternative zur ‚Leitkultur‘ darstellen, anstatt diese widerzuspiegeln.“ Natürlich hat die geistige Konstellation der 70er Jahre, die sich bereits in den 50er Jahren anbahnte, dazu beigetragen. Damals wurde nicht zuletzt auch die Theorie entwickelt, Pädophilie sei als etwas Positives zu betrachten. Vor allen Dingen aber wurde die These vertreten – und sie ist auch in die katholische Moraltheologie eingedrungen –, dass es etwas in sich Schlechtes nicht gebe. Es gebe nur „relativ“ Schlechtes. Was gut oder schlecht ist, hänge von den Folgen ab. In einem solchen Kontext, in dem alles relativ ist und das in sich Böse nicht existiert, sondern nur das relativ Gute und das relativ Böse, sind dann Menschen, die eine Neigung zu solchem Verhalten haben, bodenlos geworden. Natürlich ist Pädophilie zunächst eher eine Krankheit Einzelner, aber dass sie dann so wirksam werden und sich so ausbreiten konnte, hing auch mit einer geistigen Konstellation zusammen, durch die in der Kirche die Grundlagen der Moraltheologie, Gut und Böse, fragwürdig geworden waren. Gut und Böse wurden vertauschbar, sie standen nicht mehr in aller Klarheit gegeneinander. Auch die Aufdeckung des Doppellebens des Gründers der Ordensgemeinschaft der „Legionäre Christi“, Marcial Maciel Degollado, erschütterte die Kirche. Missbrauchsvorwürfe gegen den 2008 in den USA verstorbenen Maciel standen bereits seit Jahren im Raum. Die Lebensgefährtin Maciels gab an, Mutter zweier gemeinsamer Kinder zu sein. In Mexiko sind nun Stimmen zu hören, die öffentlichen Entschuldigungen der „Legionäre Christi“ reichten nicht aus, die Ordensgemeinschaft müsse aufgelöst werden. Leider sind wir nur sehr langsam und verspätet an diese Dinge herangekommen. Sie waren irgendwie sehr gut verdeckt, und erst seit etwa dem Jahr 2000 haben wir konkrete Anhaltspunkte gewonnen. Schließlich brauchte es eindeutige Zeugnisse, um wirklich Gewissheit zu haben, dass die Vorwürfe zutreffen. Für mich bleibt Marcial Maciel eine mysteriöse Gestalt. Da ist einerseits ein Leben, das, wie wir nun wissen, jenseits des Moralischen liegt, ein abenteuerliches, vertanes, verdrehtes Leben. Andererseits sehen wir die Dynamik und die Kraft, mit der er die Gemeinschaft der Legionäre aufgebaut hat. Wir haben inzwischen eine Apostolische Visitation durchführen lassen und einen Delegaten eingesetzt, der mit einer Gruppe von Mitarbeitern die nötigen Reformen vorbereitet. Natürlich sind Korrekturen zu machen, aber im Großen und Ganzen ist die Gemeinschaft gesund. Es gibt hier viele junge Menschen, die mit Begeisterung dem Glauben dienen wollen. Diese Begeisterung darf man nicht zerstören. Viele sind von einer falschen Gestalt letztendlich doch zum Richtigen gerufen worden. Das ist das Merkwürdige, der Widerspruch, dass sozusagen ein falscher Prophet doch eine positive Wirkung haben konnte. Diesen vielen jungen Menschen muss neu Mut gegeben werden. Es braucht eine neue Struktur, damit sie nicht ins Leere fallen, sondern, richtig geleitet, weiter der Kirche und den Menschen einen Dienst tun können. Der Fall Maciel ist unvergleichlich; aber daneben gibt es überall auch Priester, die entweder heimlich oder auch mit Wissen ihrer Gemeinde oder gar der Kirchenleitung in einer eheähnlichen Beziehung leben. Der Skandal wird umso größer, wenn Kinder aus diesen Verbindungen in Heime abgeschoben werden, während die Kirche die Alimente bezahlt. Das darf es nicht geben. Alles, was Lüge und Verheimlichung ist, darf nicht sein. Es gibt in der Kirchengeschichte leider immer wieder Zeiten, in denen solche Situationen eintreten und sich ausbreiten, gerade wenn sie gleichsam im Zug des geistigen Klimas der Zeit liegen. Dies ist natürlich auch eine besonders dringliche Herausforderung für uns alle. Wo ein Priester mit einer Frau zusammenlebt, muss geprüft werden, ob ein wirklicher Ehewille vorhanden ist und sie eine gute Ehe bilden könnten. Wenn dem so ist, müssen sie diesen Weg gehen. Wenn es um ein Versagen des moralischen Willens geht, aber keine wirkliche innere Bindung da ist, muss man versuchen, Wege der Heilung für ihn und für sie zu finden. Auf jeden Fall ist dafür zu sorgen, dass den Kindern – sie sind das erstrangige Gut – Recht geschieht und sie den lebendigen Erziehungszusammenhang erhalten, den sie brauchen. Das Grundproblem ist die Ehrlichkeit. Das zweite Problem ist die Achtung vor der Wahrheit der beiden Menschen und der Kinder, um die richtige Lösung zu finden. Das dritte ist: Wie können wir junge Menschen wieder zum Zölibat erziehen? Wie können wir die Priester stützen, dass sie ihn so leben, dass er auch ein Zeichen bleibt in dieser verworrenen Zeit, in der ja nicht nur der Zölibat, sondern auch die Ehe in einer großen Krise ist? Viele behaupten, die monogame Ehe gebe es schon gar nicht mehr. Es ist eine Riesen-Herausforderung, beides, Zölibat wie Ehe, zu stützen und neu zu erarbeiten. Die monogame Ehe gehört zum Fundament, auf dem die Zivilisation des Westens beruht. Wenn sie zusammenbricht, bricht Wesentliches unserer Kultur zusammen. Der Skandal des Missbrauchs könnte uns auch nach anderen Missbrauchsfällen fragen lassen. Missbrauch von Macht etwa. Missbrauch einer Beziehung. Missbrauch des Auftrages zur Erziehung. Missbrauch meiner Gaben. In der griechischen Antike sollte die Tragödie bei den Zuschauern eine Erschütterung auslösen, einen Reinigungseffekt, der sie neu über ihr Leben nachdenken lässt. Erst die Katharsis macht die Menschen bereit zu Veränderungen ihrer so fest eingefahrenen Verhaltensweisen. Könnte nicht auch die augenblickliche Krise der Kirche zu einer neuen Chance werden? Ich glaube schon. Ich habe ja bereits gesagt, dass das Priesterjahr, das so ganz anders verlief, als wir gedacht hatten, auch eine kathartische Wirkung hatte. Dass auch die Laien wieder dankbar wurden für das, was Priestertum eigentlich ist, es wieder neu in seiner Positivität gesehen haben, gerade durch seine Gefährdungen und Störungen hindurch. Diese Katharsis ist für uns alle, für die ganze Gesellschaft, aber vor allem natürlich für die Kirche, ein Aufruf, wieder unsere tragenden Werte zu erkennen, unsere Gefährdungen zu sehen, die nicht nur die Priester, sondern die ganze Gesellschaft zutiefst bedrohen. Das Wissen um die Bedrohung und die Zerstörung des moralischen Gefüges unserer Gesellschaft sollte uns ein Aufruf zu einer Reinigung sein. Wir müssen wieder erkennen, dass wir nicht einfach in der Beliebigkeit leben dürfen. Dass Freiheit nicht Beliebigkeit sein kann. Dass es gilt, eine Freiheit zu lernen, die Verantwortung ist. 4 Die globale Katastrophe Die Krise der Kirche ist das eine, die Krise des Säkularismus das andere. Die eine Krise mag groß sein, die andere kommt mehr und mehr einer permanenten globalen Katastrophe gleich. Durch die Klimaveränderung weitet sich der Tropengürtel aus, steigt der Meeresspiegel. Pole schmelzen, Ozonlöcher wachsen nicht mehr zu. Wir erleben Tragödien wie das Öldesaster im Golf von Mexiko, riesige Flächenbrände, unvergleichliche Flutkatastrophen, ungeahnte Hitzewellen und Dürreperioden. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-moon, bezeichnete bereits im November 2007 vor der UN-Versammlung in New York den Zustand des Planeten Erde als „extrem gefährdet“. Eine UN-Untersuchungskommission hielt fest, der Menschheit blieben nur noch wenige Jahrzehnte bis zu einem point of no return, an dem es zu spät ist, aus eigener Kraft die Problematik der hochtechnisierten Welt in den Griff zu bekommen. Eine Reihe von Experten hält diesen Punkt sogar schon für erreicht. „Gott sah alles, was er gemacht hatte“, heißt es in der Genesis, „und fürwahr, es war sehr gut.“ Erschreckend also, was aus diesem Traum von einem Planeten inzwischen geworden ist. Die Frage ist: Hält die Erde das enorme Entwicklungspotential unserer Spezies ganz einfach nicht aus? Ist sie vielleicht gar nicht darauf eingerichtet, dass wir hier auf Dauer bleiben? Oder machen wir hier irgendetwas falsch? Dass wir nicht auf ewig hier bleiben, sagt uns die Heilige Schrift, und das sagt uns auch die Erfahrung. Aber sicher machen wir etwas falsch. Ich denke, hier kommt die Problematik des Begriffs Fortschritt zum Tragen. Die Neuzeit hat sich ihren Weg unter den Grundbegriffen Fortschritt und Freiheit gesucht. Aber was ist Fortschritt? Heute sehen wir, dass der Fortschritt auch zerstörerisch sein kann. Insofern müssen wir reflektieren, welche Kriterien wir finden müssen, damit Fortschritt auch wirklich Fortschritt ist. Das Konzept des Fortschritts hatte ursprünglich zwei Aspekte: Zum einen war da der Fortschritt an Erkenntnis. Darunter verstand man, die Realität zu begreifen. Das ist in einem unglaublichen Ausmaß durch die Kombination von mathematischer Weltsicht und Experiment auch geschehen. Heute können wir dadurch die DNA, die Struktur des Lebens wie überhaupt die Struktur des Funktionierens der ganzen Wirklichkeit, rekonstruieren – bis dahin, dass wir sie inzwischen teilweise nachbauen können und bereits anfangen, nun selber Leben zu bauen. Insofern sind mit diesem Fortschritt auch neue Möglichkeiten des Menschen entstanden. Der Grundgedanke war: Fortschritt ist Erkenntnis. Und Erkenntnis ist Macht. Das heißt, wenn ich erkenne, dann kann ich auch verfügen. Erkenntnis hat Macht gebracht, aber in einer Weise, dass wir nun mit unserer eigenen Macht zugleich die Welt, die wir glauben durchschaut zu haben, auch zerstören können. So wird sichtbar, dass in der bisherigen Kombination des Fortschrittsbegriffs aus Erkenntnis und Macht ein wesentlicher Gesichtspunkt fehlt, nämlich der Aspekt des Guten. Es ist die Frage: Was ist gut? Wohin muss die Erkenntnis die Macht führen? Geht es nur darum, eben überhaupt einmal verfügen zu können – oder muss auch die Frage nach den inneren Maßstäben, nach dem, was für die Menschen, für die Welt gut ist, gestellt werden? Und das ist, denke ich, nicht in ausreichender Weise geschehen. Dadurch ist im Grunde der ethische Aspekt, zu dem die Verantwortung vor dem Schöpfer gehört, weitgehend ausgefallen. Wenn dann nur die eigene Macht durch eigene Erkenntnis vorangetrieben wird, wird diese Art von Fortschritt richtiggehend zerstörerisch. Welche Konsequenzen müssten nun folgen? Es müsste heute eine große Gewissenserforschung einsetzen. Was ist wirklich Fortschritt? Ist es Fortschritt, wenn ich zerstören kann? Ist es Fortschritt, wenn ich Menschen selber machen, selektieren und beseitigen kann? Wie kann Fortschritt ethisch und menschlich bewältigt werden? Aber nicht nur die Kriterien des Fortschritts müssten neu bedacht werden. Es geht neben der Erkenntnis und dem Fortschritt auch um den anderen Grundbegriff der Neuzeit: um die Freiheit. Die als Freiheit verstanden wird, alles machen zu können. Es gibt aus diesem Denken heraus den Anspruch, dass die Wissenschaft nicht teilbar ist. Das heißt, was man kann, muss man auch machen können. Alles andere wäre gegen die Freiheit. Ist das wahr? Ich denke, es ist nicht wahr. Wir sehen, wie die Macht des Menschen ungeheuer gewachsen ist. Was aber nicht mitwuchs, war sein ethisches Potential. Dieses Ungleichgewicht spiegelt sich heute in den Früchten eines Fortschritts, der nicht moralisch bedacht war. Die große Frage ist nun: Wie kann man den Begriff des Fortschritts und seine Realität korrigieren und dann auch von innen her positiv beherrschen? Insofern ist hier eine umfassende Grundlagenbesinnung notwendig. Wie schwer wir uns damit tun, diese Kriterien des Fortschritts zu verändern, machte die Weltklimakonferenz in Kopenhagen vom Dezember 2009 deutlich. 17 Jahre haben die Regierungen dieser Welt seit dem ersten Treffen von Rio bis zu diesem entscheidenden Gipfel gebraucht, den Wissenschaftler, Umweltschützer und Politiker zu einer der wichtigsten Konferenzen in der Geschichte der Menschheit erklärt hatten. Grundlage war das Forschungsergebnis von mehr als eintausend Wissenschaftlern, die im Auftrag des UN-Klimarates IPCC errechneten, dass die globalen Temperaturen von heute an nur noch maximal um zwei Grad steigen dürfen. Bei einer weiteren Erwärmung wird das Klima unumkehrbar kippen. Der Kompromissentwurf von Kopenhagen aber beinhaltet noch nicht einmal konkrete Vorgaben. Die Zwei-Grad-Grenze wird nun mit hoher Sicherheit überschritten werden. Die Folge davon sind Stürme, Überschwemmungen, verdorrte Ernten. Muss dieses Ergebnis nicht auch jene bestätigen, die die Menschheit für schlichtweg unfähig halten, eine Bedrohung wie den Klimawandel in einer kollektiven Anstrengung überhaupt noch lösen zu können? Das ist in der Tat das große Problem. Was können wir tun? Es gibt angesichts der drohenden Katastrophe inzwischen überall die Erkenntnis, dass wir moralische Entscheidungen treffen müssen. Es gibt auch ein mehr oder weniger ausgeprägtes Bewusstsein für eine globale Verantwortung; dafür, dass die Ethik sich nicht mehr bloß auf die eigene Gruppe oder die eigene Nation beziehen darf, sondern die Erde und alle Menschen im Blick haben muss. Insofern ist ein gewisses Potential an moralischer Erkenntnis vorhanden. Aber dieses dann in politischen Willen und in politische Aktionen umzusetzen, wird durch das Fehlen von Verzichtbereitschaft weitgehend wieder unmöglich gemacht. Das müsste ja in nationale Haushalte umgesetzt und letztlich von den Einzelnen ausgetragen werden, wobei es dann wiederum um die unterschiedliche Belastung der verschiedenen Gruppen geht. So wird deutlich, dass der politische Wille letztlich nicht wirksam werden kann, wenn es nicht in der ganzen Menschheit – vor allen Dingen bei den Hauptträgern der Entwicklung und des Fortschritts – ein neues, vertieftes moralisches Bewusstsein, eine Verzichtbereitschaft gibt, die konkret ist und die dem Einzelnen auch zur Wertvorgabe für sein Leben wird. Die Frage ist deshalb: Wie kann der große moralische Wille, den alle bejahen und nach dem alle rufen, zu einer persönlichen Entscheidung werden? Denn solange das nicht geschieht, bleibt die Politik ohnmächtig. Wer also kann bewirken, dass dieses allgemeine Bewusstsein auch ins Persönliche eindringt? Das kann nur eine Instanz, die die Gewissen anrührt, die dem Einzelnen nahe ist und nicht nur zu plakativen Veranstaltungen aufruft. Insofern ist hier die Kirche herausgefordert. Sie ist nicht nur in der großen Verantwortung, sie ist, würde ich sagen, oft die einzige Hoffnung. Denn sie ist den Gewissen vieler Menschen so nahe, dass sie diese zu bestimmten Verzichten bewegen und Grundhaltungen in die Seelen einprägen kann. Der Philosoph Peter Sloterdijk sagt zum globalen Geo-Management: „Die Menschen sind Zukunftsatheisten. Sie glauben nicht an das, was sie wissen, selbst wenn man ihnen stringent beweist, was kommen muss.“ Theoretisch glauben sie es vielleicht schon. Aber sie sagen sich, es wird mich schon nicht treffen. Mein Leben werde ich jedenfalls nicht ändern. Und dann gibt es hier schließlich nicht nur die individuellen Egoismen, die gegeneinander stehen, sondern auch die Gruppenegoismen. Man ist einen bestimmten Lebenstypus gewohnt, und wenn dieser bedroht wird, dann wehrt man sich natürlich. Man sieht auch zu wenig Modelle, wie Verzicht konkret aussehen könnte. In dieser Hinsicht haben die Ordensgemeinschaften eine exemplarische Bedeutung. Sie können auf ihre Weise vorleben, dass ein Lebensstil des rationalen, moralischen Verzichtes durchaus praktizierbar ist, ohne dabei die Möglichkeiten unserer Zeit ganz ausklammern zu müssen. Wenn es um das gute Beispiel geht, zeigt sich auch der Staat als wenig vorbildlich. Regierungen häufen heute Schulden in noch nie dagewesener Höhe an. Ein einziges Land wie Deutschland gibt im Jahr 2010 nicht weniger als 43,9 Milliarden Euro nur für Zinszahlungen an Banken aus; also dafür, dass wir bei allem Reichtum zusätzlich über unsere Verhältnisse gelebt haben. Allein diese Zinszahlungen würden genügen, ein Jahr lang die Lebensmittel für alle Kinder in Entwicklungsländern bereitzustellen. Weltweit sind seit Ausbruch der Finanzkrise die Staatsschulden um 45 Prozent gestiegen – auf mittlerweile über 50 Billionen Dollar, unfassbare Zahlen, eine noch nie dagewesene Situation. Allein die Mitgliedsländer der EU nehmen 2010 über 800 Milliarden Euro neue Kredite auf. Die Neuverschuldung im US-Staatshaushalt liegt bei 1,56 Billionen Dollar, dem höchsten Stand aller Zeiten. Der Harvard-Professor Kenneth Rogoff sagt deshalb, es gibt keine Normalität mehr, sondern nur noch eine Illusion von Normalität. Fest steht, dass nachfolgende Generationen mit gigantischen Schulden belastet werden. Ist das nicht auch ein irrsinnig großes moralisches Problem? Natürlich, weil wir auf Kosten der nachfolgenden Generationen leben. Insofern sieht man, dass wir in der Unwahrheit leben. Wir leben auf den Schein hin, und die großen Schulden werden dabei als etwas behandelt, das uns einfach zu eigen ist. Auch hier begreifen in der Theorie alle, dass es eine Besinnung bräuchte, wieder zu erkennen, was wirklich möglich ist, was man kann, was man darf. Und dennoch dringt es nicht in die Herzen der Menschen vor. Über die einzelnen Finanzpläne hinaus ist eine globale Gewissenserforschung unerlässlich. Die Kirche hat hier mit der Enzyklika „Caritas in veritate“ beizutragen versucht. Da sind nicht die Antworten gegeben, die alles lösen würden. Aber es ist ein Schritt, die Dinge in eine andere Perspektive zu rücken und sie nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Machbarkeit und des Erfolgs zu betrachten, sondern unter dem Gesichtspunkt, dass es eine Normativität der Nächstenliebe gibt, die sich am Willen Gottes orientiert und nicht nur an unseren Wünschen. Insofern müssten in dieser Weise Impulse gesetzt werden, damit wirklich eine Bewusstseinsänderung stattfinden kann. Das Problem der Umweltzerstörung haben wir erkannt. Dass aber für die Rettung der Ökologie die Rettung unserer geistigen Ozonschicht und insbesondere die Rettung unserer spirituellen Regenwälder die Voraussetzung ist, scheint erst ganz langsam in unser Bewusstsein vorzudringen. Müssten wir nicht längst auch fragen: Was ist mit der Verunreinigung des Denkens, der Verschmutzung unserer Seelen? Vieles, was wir in dieser Medien- und Kommerzkultur zulassen, entspricht im Grunde einer toxischen Belastung, die fast zwangsläufig zu einer geistigen Vergiftung führen muss. Dass es eine Vergiftung des Denkens gibt, die uns schon im Voraus in falsche Perspektiven hineinführt, ist nicht zu übersehen. Uns davon wieder zu befreien mittels einer wirklichen Bekehrung, um dieses Grundwort des christlichen Glaubens zu benutzen, ist eine der Herausforderungen, deren Evidenz inzwischen allgemein sichtbar wird. In unserer so wissenschaftlich und modern ausgerichteten Welt hatten solche Begriffe keine Bedeutung mehr. Eine Bekehrung im Sinn des Glaubens auf einen Willen Gottes hin, der uns einen Weg weist, das galt als altmodisch und überholt. Ich glaube, langsam aber wird sichtbar, dass etwas dran ist, wenn wir sagen, dass wir uns neu besinnen müssen. Die Äbtissin und Ärztin Hildegard von Bingen brachte diese Zusammenhänge bereits vor 900 Jahren mit folgender Formel auf den Punkt: „Wenn der Mensch sündigt, leidet der Kosmos.“ Die Probleme der augenblicklichen geschichtlichen Stunde, so schreiben Sie in Ihrem Jesus-Buch, seien die Folge davon, dass Gott nicht mehr gehört wird. An anderer Stelle sprechen Sie sogar vom „Erlöschen des von Gott kommenden Lichtes“. Für viele ist der praktische Atheismus heute die normale Lebensregel. Es gibt vielleicht irgendetwas oder irgendjemanden, denkt man, der vor Urzeiten einmal die Welt angestoßen hat, aber uns geht er nichts an. Wenn diese Einstellung zur allgemeinen Lebenshaltung wird, dann hat die Freiheit keine Maßstäbe mehr, dann ist alles möglich und erlaubt. Deshalb ist es ja auch so dringlich, dass die Gottesfrage wieder ins Zentrum rückt. Das ist freilich kein Gott, den es irgendwie gibt, sondern ein Gott, der uns kennt, der uns anredet und uns angeht – und der dann auch unser Richter ist. 5 Diktatur des Relativismus Der britische Schriftsteller Aldous Huxley hat 1932 in seinem Zukunftsroman „Schöne neue Welt“ die Fälschung als das bestimmende Moment der Moderne vorausgesagt. In der falschen Wirklichkeit mit ihrer falschen Wahrheit – oder überhaupt der Abwesenheit von Wahrheit – ist am Ende nichts mehr wichtig. Es gibt keine Wahrheit, es gibt keinen Standpunkt. Tatsächlich wird die Wahrheit inzwischen als ein allzu subjektiver Begriff betrachtet, als dass sich darunter noch ein allgemein gültiger Maßstab finden ließe. Die Unterscheidung zwischen echt und unecht scheint aufgehoben. Alles ist gewissermaßen verhandelbar. Ist das der Relativismus, vor dem Sie so eindringlich warnten? Es ist offenkundig, dass der Begriff Wahrheit unter Verdacht geraten ist. Natürlich ist richtig, dass er viel missbraucht wurde. Im Namen der Wahrheit kam es zu Intoleranz und Grausamkeit. Insofern fürchtet man sich davor, wenn jemand sagt: Dies ist die Wahrheit, oder gar: Ich habe die Wahrheit. Wir haben sie nie, bestenfalls hat sie uns. Dass man vorsichtig und behutsam damit sein muss, Wahrheit zu beanspruchen, wird niemand bestreiten. Sie aber einfach als unerreichbar abzutun, wirkt regelrecht zerstörerisch. Ein Großteil der heutigen Philosophien besteht tatsächlich darauf, zu sagen, der Mensch sei nicht wahrheitsfähig. Aber so gesehen wäre er auch nicht zum Ethos befähigt. Dann hätte er keine Maßstäbe. Dann müsste man nur noch beachten, wie man sich einigermaßen arrangiert, und dann würde allenfalls die Meinung der Mehrheit zum einzigen Kriterium, das zählt. Wie zerstörerisch Mehrheiten sein können, hat die Geschichte jedoch genügend gezeigt, etwa in Systemen wie Nazismus und Marxismus, die alle insbesondere auch gegen die Wahrheit standen. „Es entsteht eine Diktatur des Relativismus“, erklärten Sie in Ihrer Rede zur Eröffnung des Konklaves, „die nichts als endgültig anerkennt und als letzten Maßstab nur das eigene Ich und seine Wünsche gelten lässt.“ Deshalb müssen wir den Wagemut haben, zu sagen: Ja, der Mensch muss nach Wahrheit ausschauen; er ist wahrheitsfähig. Dass die Wahrheit Kriterien der Verifizierbarkeit und der Falsifizierbarkeit braucht, ist selbstverständlich. Sie muss immer auch mit Toleranz einhergehen. Die Wahrheit zeigt uns dann aber auch jene konstanten Werte auf, die die Menschheit groß gemacht haben. Deshalb muss die Demut, Wahrheit anzuerkennen und maßstäblich werden zu lassen, wieder neu gelernt und eingeübt werden. Dass die Wahrheit nicht durch Gewalt zur Herrschaft gebracht wird, sondern durch ihre eigene Macht, ist der zentrale Inhalt des JohannesEvangeliums: Jesus bekennt sich vor Pilatus als Die Wahrheit und als den Zeugen der Wahrheit. Er verteidigt die Wahrheit nicht durch Legionen, sondern macht sie durch seine Passion sichtbar und setzt sie dadurch auch in Kraft. In der relativistisch gewordenen Welt hat ein neues Heidentum mehr und mehr die Herrschaft über das Denken und Handeln des Menschen übernommen. Längst wurde dabei deutlich, dass neben der Kirche nicht nur ein freier Raum, ein Vakuum, ist, sondern sich so etwas wie eine Antikirche etabliert hat. Der Papst in Rom sei allein schon deshalb zu verurteilen, schrieb eine deutsche Zeitung, weil er mit seinen Positionen „gegen die Religion verstoßen hat“, die heute „in diesem Land gilt“, nämlich die „Zivilreligion“. Ist da ein neuer Kulturkampf entstanden, wie Marcello Pera analysierte? Der frühere italienische Senatspräsident spricht von einem „groß angelegten Kampf des Laizismus gegen das Christentum“. Es breitet sich eine neue Intoleranz aus, das ist ganz offenkundig. Es gibt eingespielte Maßstäbe des Denkens, die allen auferlegt werden sollen. Diese werden dann in der sogenannten negativen Toleranz verkündet. Also etwa, wenn man sagt, der negativen Toleranz wegen darf es kein Kreuz in öffentlichen Gebäuden geben. Im Grunde erleben wir damit die Aufhebung der Toleranz, denn das heißt ja, dass die Religion, dass der christliche Glaube sich nicht mehr sichtbar ausdrücken darf. Wenn man beispielsweise im Namen der Nichtdiskriminierung die katholische Kirche zwingen will, ihre Position zur Homosexualität oder zur Frauenordination zu ändern, dann heißt das, dass sie nicht mehr ihre eigene Identität leben darf, und dass man stattdessen eine abstrakte Negativreligion zu einem tyrannischen Maßstab macht, dem jeder folgen muss. Das ist dann anscheinend die Freiheit – allein schon deshalb, weil es die Befreiung vom Bisherigen ist. In Wirklichkeit jedoch führt diese Entwicklung mehr und mehr zu einem intoleranten Anspruch einer neuen Religion, die vorgibt, allgemein gültig zu sein, weil sie vernünftig ist, ja, weil sie die Vernunft an sich ist, die alles weiß und deshalb auch den Raum vorgibt, der nun für alle maßgeblich werden soll. Dass im Namen der Toleranz die Toleranz abgeschafft wird, ist eine wirkliche Bedrohung, vor der wir stehen. Die Gefahr ist, dass die Vernunft – die sogenannte westliche Vernunft – behauptet, sie habe nun wirklich das Richtige erkannt, und damit einen Totalitätsanspruch erhebt, der freiheitsfeindlich ist. Ich glaube, diese Gefahr müssen wir sehr nachdrücklich darstellen. Niemand wird gezwungen, Christ zu sein. Aber niemand darf gezwungen werden, die „neue Religion“ als die allein bestimmende und die ganze Menschheit verpflichtende leben zu müssen. Die Aggressivität, mit der diese neue Religion auftritt, beschrieb der „Spiegel“ als „Kreuzzug der Atheisten“. Es ist ein Kreuzzug, der Christentum als „Gotteswahn“ verhöhnt und die Religion als Fluch einordnet, dem auch alle Kriege zuzuschreiben seien. Sie selbst sprachen bereits von einer „subtilen oder auch weniger subtilen Aggression gegen die Kirche“. Auch ohne ein totalitäres Regime herrsche heute ein Druck, so zu denken, wie alle denken. Die Angriffe gegen die Kirche zeigten, „wie dieser Konformismus wirklich eine echte Diktatur sein kann“. Harte Worte. Aber die Wirklichkeit ist in der Tat so, dass bestimmte Formen des Verhaltens und des Denkens als die allein vernünftigen und daher allein menschengemäßen dargestellt werden. Das Christentum sieht sich dann einem Intoleranzdruck ausgesetzt, der es zunächst einmal lächerlich macht – als einem verkehrten, einem falschem Denken zugehörig – und ihm dann im Namen einer scheinbaren Vernünftigkeit den Atemraum wegnehmen will. Es ist sehr wichtig, dass wir uns einer solchen Absolutheitsforderung einer bestimmten Art von „Vernünftigkeit“ widersetzen. Diese ist eben nicht die reine Vernunft selber, sondern die Beschränkung der Vernunft auf das, was man naturwissenschaftlich erkennen kann – und zugleich die Ausgrenzung all dessen, was darüber hinausführt. Natürlich ist es wahr, dass es in der Geschichte auch Kriege der Religion wegen gegeben hat, dass Religion auch zu Gewalt geführt hat … … Aber weder Napoleon noch Hitler oder die US-Army in Vietnam hatten mit Glaubenskämpfen zu tun. Es ist umgekehrt gerade einmal 70 Jahre her, dass atheistische Systeme in West und Ost die Welt in den Ruin trieben; in einer gottfernen Epoche, die der amerikanische Schriftsteller Louis Begley „ein satanisches Requiem“ nannte. Wahr bleibt umso mehr auch die große Kraft des Guten, die durch die Religion entbunden worden ist und über große Namen – Franz von Assisi, Vinzenz von Paul, Mutter Teresa usw. – die ganze Geschichte hindurch gegenwärtig ist und aufleuchtet. Umgekehrt haben die neuen Ideologien zu einer Art von Grausamkeit und Menschenverachtung geführt, die vorher undenkbar war, weil immer noch der Respekt vor dem Ebenbild Gottes da war, während ohne diesen Respekt der Mensch sich selbst als absolut setzt und alles darf – und dann wirklich zum Zerstörer wird. Andererseits könnte man sagen: Ein Staat muss im Hinblick auf die Gleichheit aller auch das Recht haben, religiöse Symbole aus dem öffentlichen Raum zu verbannen, auch das Kreuz Christi. Ist das nachvollziehbar? Hier ist erstens die Frage zu stellen: Warum muss er es verbannen? Wenn das Kreuz eine Aussage beinhalten würde, die für andere nicht nachvollziehbar und unzumutbar ist, wäre das schon eher bedenkenswert. Aber das Kreuz beinhaltet, dass Gott selbst ein Leidender ist, dass er uns durch Leiden lieb hat, dass er uns liebt. Das ist eine Aussage, die niemanden angreift. Das ist das eine. Zum anderen gibt es natürlich auch eine kulturelle Identität, auf der unsere Länder beruhen. Eine Identität, die unsere Länder positiv formt und von innen her trägt – und die immer noch die positiven Werte und die Grundform der Gesellschaft bildet, durch die der Egoismus in seine Grenzen gewiesen wird und eine Kultur der Menschlichkeit möglich ist. Ich würde sagen, ein solcher kultureller Selbstausdruck einer Gesellschaft, die davon positiv lebt, kann niemanden, der die Überzeugung nicht teilt, beleidigen, und er darf auch nicht verbannt werden. In der Schweiz stimmten die Bürger zwar nicht gegen den Bau von Moscheen, aber gegen den Bau von Minaretten an Moscheen. In Frankreich verbot das Parlament das Tragen einer Burka. Können sich Christen darüber freuen? Christen sind tolerant, und insofern lassen sie auch den anderen ihr Selbstverständnis. Wir sind dankbar, dass es in den Ländern am Arabischen Golf (Qatar, Abu Dhabi, Dubai, Kuwait) Kirchen gibt, in denen die Christen Gottesdienst feiern können, und wünschen, dass es überall so wird. Deswegen ist es selbstverständlich, dass Muslime auch bei uns sich in Moscheen zum Gebet versammeln können. Was die Burka angeht, sehe ich keinen Grund für ein generelles Verbot. Man sagt, manche Frauen würden die Burka gar nicht freiwillig tragen und sie sei eigentlich eine Vergewaltigung der Frau. Damit kann man natürlich nicht einverstanden sein. Wenn sie sie aber freiwillig tragen wollen, weiß ich nicht, warum man sie ihnen verbieten muss. In Italien sind 80 Prozent der Einwohner katholisch getauft. In Portugal sind es 90 Prozent, in Polen ebenfalls 90 Prozent, im kleinen Malta 100 Prozent. In Deutschland gehören noch immer mehr als 60 Prozent der Bevölkerung den beiden christlichen Volkskirchen an, ein beträchtlicher weiterer Teil anderen christlichen Gemeinschaften. Die christlich-abendländische Kultur ist ohne Zweifel die Basis für den Erfolg und Wohlstand Europas – dennoch nimmt es heute eine Mehrheit hin, von einer Minderheit von Meinungsführern dominiert zu werden. Eine merkwürdige, wenn nicht sogar schizophrene Situation. Man sieht daran eine innere Problematik. Denn inwieweit gehören die Menschen der Kirche überhaupt noch zu? Sie wollen ihr einerseits zugehören, wollen dieses Fundament nicht verlieren. Andererseits sind sie natürlich doch auch inwendig geformt und gestaltet von der modernen Denkart. Es ist das unvergorene Mit- und Nebeneinander von christlichem Grundwillen und einer neuen Weltanschauung, die das ganze Leben prägt. Insofern verbleibt eine Art von Schizophrenie, eine geteilte Existenz. Wir müssen danach trachten, dass beides, soweit es sich vereinbaren lässt, sich ineinander fügt. Das Christsein darf nicht zu einer Art archaischer Schicht werden, die ich irgendwie festhalte und gewissermaßen neben der Modernität lebe. Es ist selbst etwas Lebendiges, etwas Modernes, das meine gesamte Modernität durchformt und gestaltet – und sie insofern regelrecht umarmt. Dass hier ein großes geistiges Ringen erforderlich ist, habe ich nicht zuletzt jüngst durch die Gründung eines „Päpstlichen Rates für die Neuevangelisierung“ zum Ausdruck gebracht. Wichtig ist, dass wir versuchen, das Christentum so zu leben und zu denken, dass es die gute, die rechte Moderne in sich aufnimmt – und zugleich sich dann von dem scheidet und unterscheidet, was eine Gegenreligion wird. Nüchtern betrachtet ist die katholische Kirche die größte Organisation der Welt, mit einem gut funktionierenden, zentral organisierten Netz über den ganzen Globus. Sie hat 1,2 Milliarden Mitglieder, sie hat über 4000 Bischöfe, 400.000 Priester, Millionen Ordensleute. Sie hat tausende von Universitäten, Klöstern, Schulen, Sozialeinrichtungen. Sie ist in Ländern wie Deutschland nach dem Staat der größte Arbeitgeber. Sie ist nicht nur eine Premium-Marke mit unverbrüchlichen Richtlinien, sondern hat eine eigene Identität – mit eigenem Kult, mit eigener Ethik, mit dem Heiligsten vom Heiligen, der Eucharistie. Und überhaupt: Sie ist von „ganz oben“ legitimiert und kann von sich behaupten: Wir sind das Original; und wir sind die Hüter des Schatzes. Mehr geht eigentlich nicht. Ist es nicht seltsam, oder nicht auch ein Skandal, dass diese Kirche nicht weit mehr aus diesem unvergleichlichen Potential macht? Das müssen wir uns natürlich fragen. Es ist das Aufeinanderstoßen zweier geistiger Welten, der Welt des Glaubens und der Welt des Säkularismus. Die Frage ist: Wo hat der Säkularismus recht? Wo also kann und muss sich der Glaube die Formen und Gestalten der Moderne aneignen – und wo muss er Widerstand leisten? Dieses große Ringen durchdringt heute die ganze Welt. Die Bischöfe in den Dritte-Welt-Ländern sagen mir: Auch bei uns ist der Säkularismus da; er fällt hier mit noch ganz archaischen Lebensformen zusammen. Oft fragt man sich wirklich, wie es kommt, dass Christen, die persönlich gläubige Menschen sind, nicht die Kraft haben, ihren Glauben politisch stärker zur Wirkung zu bringen. Wir müssen vor allen Dingen versuchen, dass die Menschen Gott nicht aus den Augen verlieren. Dass sie den Schatz erkennen, den sie haben. Und dass sie dann selber, aus der Kraft des eigenen Glaubens heraus, in die Auseinandersetzung mit dem Säkularismus treten und die Scheidung der Geister zu vollziehen vermögen. Dieser gewaltige Prozess ist der eigentliche, große Auftrag dieser Stunde. Wir können nur hoffen, dass die innere Kraft des Glaubens, die in den Menschen da ist, dann auch öffentlich mächtig wird, indem sie auch öffentlich das Denken prägt, und die Gesellschaft nicht einfach ins Bodenlose fällt. Könnte man nicht auch davon ausgehen, dass sich nach 2000 Jahren das Christentum einfach erschöpft hat, so wie sich in der Geschichte der Zivilisation auch andere Großkulturen erschöpft haben? Wenn man es oberflächlich betrachtet und nur die westliche Welt im Blickfeld hat, könnte man das denken. Aber wenn man genauer hinschaut, wie es mir gerade durch die Besuche der Bischöfe aus aller Welt und durch viele andere Begegnungen möglich ist, sieht man, dass das Christentum in dieser Stunde zugleich eine ganz neue Kreativität entfaltet. In Brasilien zum Beispiel gibt es einerseits ein starkes Anwachsen der Sekten, die oft sehr fragwürdig sind, weil sie zumeist nur Prosperität verheißen, äußeren Erfolg. Es gibt aber auch neue katholische Aufbrüche, eine Dynamik neuer Bewegungen, etwa die „Herolde des Evangeliums“, junge Menschen, die von der Begeisterung erfasst sind, Christus als den Sohn Gottes erkannt zu haben und ihn in die Welt zu tragen. Wie mir der Erzbischof von São Paulo sagt, entstehen dort fortwährend neue Bewegungen. Es ist also eine Kraft des Aufbruchs und des neuen Lebens da. Oder denken wir daran, was die Kirche für Afrika bedeutet. Sie ist dort oft das Einzige, was in den Verwirrungen und Zerstörungen der Kriege immer bleibt; der einzige Hort, wo noch Menschlichkeit da ist, wo etwas für die Menschen getan wird. Sie setzt sich dafür ein, dass das Leben weitergehen kann, dass für Kranke gesorgt wird, dass Kinder zur Welt kommen und erzogen werden können. Sie ist eine Lebenskraft, die immer wieder neu auch Begeisterung schafft und dann neue Wege hervorbringt. Weniger deutlich, aber dennoch unverkennbar gibt es auch bei uns im Westen den Aufbruch neuer katholischer Initiativen, die nicht von einer Struktur, von einer Bürokratie befohlen sind. Die Bürokratie ist verbraucht und müde. Diese Initiativen kommen von innen heraus, aus der Freude junger Menschen. Das Christentum nimmt vielleicht ein anderes Gesicht, auch eine andere kulturelle Gestalt an. Es hat nicht den Kommandoplatz in der Weltmeinung inne, da regieren andere. Aber es ist die Lebenskraft, ohne die auch die anderen Dinge nicht weiterbestehen würden. Insofern bin ich durch das, was ich selber sehen und erleben darf, ganz optimistisch, dass das Christentum vor einer neuen Dynamik steht. Manchmal hat man dennoch den Eindruck, als sei es ein Naturgesetz, dass sich gewissermaßen das Heidentum immer wieder jene Flächen zurückholt, die vom Christentum gerodet und urbar gemacht wurden … Dass gemäß der erbsündigen Struktur des Menschen das Heidentum in ihm immer wieder durchbricht, ist eine Erfahrung, die sich durch alle Jahrhunderte zieht. Die Wahrheit der Erbsünde bestätigt sich. Immer wieder fällt der Mensch hinter den Glauben zurück, will er wieder nur er selber sein, wird er Heide im tiefsten Sinn des Wortes. Aber immer wieder zeigt sich auch die göttliche Präsenz im Menschen. Das ist das Ringen, das durch die ganze Geschichte hindurchgeht. Wie der heilige Augustinus gesagt hat: Die Weltgeschichte ist ein Kampf zwischen zweierlei Formen von Liebe: der Liebe zu sich selbst – bis zur Zerstörung der Welt; und der Liebe für den Anderen – bis zum Verzicht auf sich selbst. Dieser Kampf, den man immer sehen konnte, ist auch jetzt im Gange. 6 Zeit der Umkehr Am Beginn des dritten Jahrtausends erleben die Völker der Erde einen Umbruch von bislang unvorstellbarem Ausmaß – ökonomisch, ökologisch, gesellschaftlich. Wissenschaftler sehen das nächste Jahrzehnt als entscheidend für das Fortbestehen dieses Planeten an. Heiliger Vater, Sie selbst fanden im Januar 2010 vor Diplomaten in Rom dramatische Worte: „Unsere Zukunft und das Schicksal unseres Planeten sind in Gefahr.“ Wenn es nicht bald gelinge, auf breiter Basis eine Umkehr einzuleiten, so an anderer Stelle, würden sich Hilflosigkeit und ein Szenario des Chaos gewaltig verstärken. In Fatima hatte Ihre Predigt einen fast schon apokalyptischen Ton: „Dem Menschen ist es gelungen, einen Kreislauf des Todes und des Schreckens zu entfesseln, den er nicht mehr zu durchbrechen vermag.“ Sehen Sie in den Zeichen der Zeit die Signale einer Zäsur, die die Welt verändert? Es gibt natürlich Zeichen, die uns erschrecken lassen, die uns beunruhigen. Es gibt aber auch die anderen Zeichen, an die wir anknüpfen können und die uns Hoffnung geben. Wir haben ja über das Szenario des Schreckens und der Gefährdung bereits ausführlich gesprochen. Ich würde hier noch eines hinzufügen, das mir von den Besuchen der Bischöfe her besonders auf der Seele brennt. Ganz viele Bischöfe, vor allen Dingen aus Lateinamerika, sagen mir, dass da, wo die Straße des Drogenanbaus und Drogenhandels verläuft – und das sind große Teile dieser Länder –, es so ist, wie wenn ein böses Untier seine Hand auf das Land gelegt hätte und die Menschen verdirbt. Ich glaube, diese Schlange des Drogenhandels und -konsums, die die Erde umspannt, ist eine Macht, von der wir uns nicht immer die gebührende Vorstellung machen. Sie zerstört die Jugend, sie zerstört Familien, sie führt zur Gewalt und gefährdet die Zukunft ganzer Länder. Auch dies gehört zu den schrecklichen Verantwortungen des Westens, dass er Drogen braucht, und dass er damit Länder schafft, die ihm das zuführen müssen, was sie am Ende verbraucht und zerstört. Da ist eine Gier nach Glück entstanden, die sich mit dem Bestehenden nicht begnügen kann. Und die dann in das Paradies des Teufels, wenn man so sagen will, flüchtet und Menschen rundum zerstört. Hinzu kommt ein weiteres Problem. Die Zerstörung, die der Sextourismus über unsere Jugend bringt, sagen die Bischöfe, können wir uns gar nicht vorstellen. Da sind Prozesse der Zerstörung im Gang, die außerordentlich sind und die aus dem Übermut und dem Überdruss und der falschen Freiheit der westlichen Welt geboren sind. Man sieht, der Mensch erstrebt eine unendliche Freude, er möchte Lust bis zum Äußersten, möchte das Unendliche. Aber wo es Gott nicht gibt, wird es ihm nicht gewährt, kann es nicht sein. Da muss er nun selber das Unwahre, die unwahre Unendlichkeit schaffen. Dies ist ein Zeichen der Zeit, das uns gerade als Christen dringend herausfordern muss. Wir müssen darstellen – und dies auch leben –, dass die Unendlichkeit, die der Mensch braucht, nur von Gott kommen kann. Dass Gott die erste Notwendigkeit ist, um den Bedrängnissen dieser Zeit standhalten zu können. Dass wir sozusagen alle Kräfte der Seele und des Guten mobilisieren müssen, damit eine wirkliche Prägung gegen die falsche Prägung auftritt – und auf diese Weise der Kreislauf des Bösen gesprengt und aufgehalten werden kann. Mit dem Blick auf das Ende der Ressourcen, das Ende einer alten Epoche, das Ende einer bestimmten Lebensweise wird uns elementar wieder die Endlichkeit der Dinge an sich bewusst – auch das Ende des Lebens überhaupt. Viele Menschen sehen in den Zeichen dieser Zeit bereits das Signum einer Endzeit. Die Welt gehe vielleicht nicht unter, heißt es. Aber sie gehe in eine neue Richtung. Eine krank gewordene Gesellschaft, in der vor allem psychische Probleme zunehmen, sehne sich geradezu flehend nach Heilung und Erlösung. Sollte man nicht auch darüber nachdenken, ob diese neue Richtung möglicherweise mit der Wiederkehr Christi zusammenhängt? Wichtig ist, wie Sie sagen, dass ein Heilungsbedürfnis besteht, dass man wieder irgendwie verstehen kann, was Erlösung heißt. Die Menschen erkennen, dass die Existenz, wenn Gott nicht da ist, krank wird und der Mensch so nicht bestehen kann. Dass er eine Antwort braucht, die er selber nicht geben kann. Insofern ist diese Zeit eine adventliche Zeit, die auch viel Gutes bietet. Die große Kommunikation beispielsweise, die wir heute haben, kann einerseits zur vollkommenen Entpersönlichung führen. Man schwimmt dann nur noch im Meer der Kommunikation, trifft gar nicht mehr auf Personen. Sie kann aber andererseits auch eine Chance sein. Etwa darin, dass wir einander wahrnehmen, dass wir einander begegnen, dass wir einander helfen, dass wir aus uns herausgehen. So scheint mir wichtig, nicht nur das Negative zu sehen. Wir müssen es zwar mit aller Schärfe wahrnehmen, müssen aber auch all die Chancen des Guten sehen, die da sind, die Hoffnungen, die neuen Möglichkeiten des Menschseins, die es gibt. Um letztlich darin dann die Notwendigkeit der Wende zu verkünden, die nicht ohne eine innere Umkehr geschehen kann. Was heißt das konkret? Zu dieser Umkehr gehört, dass man Gott wieder an die erste Stelle setzt. Dann wird alles anders. Und dass man wieder nachfragt nach den Worten Gottes, um sie als Realitäten in das eigene Leben hereinleuchten zu lassen. Wir müssen sozusagen das Experiment mit Gott wieder wagen – um ihn hereinwirken zu lassen in unsere Gesellschaft. Das Evangelium beinhaltet nach eigenem Verständnis keine Botschaft, die aus der Vergangenheit kommt und sich erledigt hätte. Die Präsenz und Dynamik der Offenbarung Christi besteht im Gegenteil gerade darin, dass sie gewissermaßen aus der Zukunft kommt – und wiederum für die Zukunft jedes Einzelnen wie für die Zukunft aller von entscheidender Bedeutung ist. „Beim zweiten Mal wird er nicht wegen der Sünde erscheinen“, heißt es im Hebräerbrief über Christus, „sondern um die zu retten, die ihn erwarten“. Müsste die Kirche heute nicht noch weit deutlicher darüber aufklären, dass sich die Welt gemäß den Angaben der Bibel nicht mehr nur in der Zeit nach Christus, sondern weit mehr schon wieder in der Zeit vor Christus befindet? Das war ja ein Anliegen von Johannes Paul II., deutlich zu machen, dass wir auf den kommenden Christus hinschauen. Dass also der Gekommene noch weit mehr auch der Kommende ist und wir in dieser Perspektive Glauben auf Zukunft hin leben. Dazu gehört, dass wir auch wirklich imstande sind, die Botschaft des Glaubens wieder aus der Perspektive des kommenden Christus darzustellen. Oft wurde dieser Kommende zwar einerseits in wahren, zugleich aber auch in abgestandenen Formeln vorgetragen. Sie sprechen nicht mehr in unseren Lebenszusammenhang herein und sind oft für uns nicht mehr verständlich. Oder aber dieser Kommende wird ganz entleert und zu einem allgemeinen moralischen Topos umgefälscht, von dem nichts kommt und der nichts bedeutet. Wir müssen also versuchen, tatsächlich die Substanz als solche zu sagen – aber sie neu zu sagen. Jürgen Habermas hat gemeint, es ist wichtig, dass Theologen da sind, die den Schatz, der in ihrem Glauben verwahrt ist, so zu übersetzen vermögen, dass er in der säkularen Welt ein Wort für diese Welt ist. Er wird es vielleicht etwas anders verstehen als wir, aber er hat darin Recht, dass der innere Übersetzungsvorgang der großen Worte in das Wortund Denkbild unserer Zeit zwar im Anlaufen, aber noch nicht wirklich geglückt ist. Dies kann nur gelingen, wenn Menschen das Christentum vom Kommenden her leben. Erst dann können sie es auch aussagen. Die Aussage, die intellektuelle Übersetzung, setzt die existenzielle Übersetzung voraus. Insofern sind es die Heiligen, die Christsein gegenwärtig und künftig leben, und aus deren Existenz heraus der kommende Christus auch übersetzbar wird, so dass er im Verstehenshorizont der säkularen Welt gegenwärtig werden kann. Das ist der große Auftrag, vor dem wir stehen. Die Wende unserer Zeit brachte andere Lebensformen und Lebensphilosophien mit sich, aber auch eine andere Wahrnehmung von Kirche. Die Fortschritte der medizinischen Forschung stellen riesige ethische Herausforderungen dar. Nach Antworten verlangt auch das neue Universum des Internets. Johannes XXIII. hat den Wandel nach den beiden Weltkriegen aufgegriffen, um die „Zeichen der Zeit“, wie es in der Einberufungsbulle „Humanae salutis“ vom 25. Dezember 1961 heißt, auf einem Konzil zu deuten, auch wenn er damals schon ein alter und kranker Mann war. Wird Benedikt XVI. es ihm gleichtun? Nun, Johannes XXIII. hat einen großen und nicht wiederholbaren Gestus gemacht, indem er einem universalen Konzil anvertraut hat, das Wort des Glaubens heute neu zu verstehen. Vor allen Dingen hat das Konzil den großen Auftrag nachgeholt und eingelöst, sowohl die Bestimmung als auch die Relation der Kirche zur Neuzeit und auch die Beziehung des Glaubens zu dieser Zeit mit ihren Werten neu zu definieren. Aber das Gesagte dann in Existenz umzusetzen und dabei in der inneren Kontinuität des Glaubens zu bleiben, ist ein viel schwierigerer Prozess als das Konzil selbst. Zumal das Konzil in der Interpretation der Medien in die Welt gekommen ist und weniger mit seinen eigenen Texten, die kaum von jemand gelesen werden. Ich glaube, unsere große Aufgabe ist jetzt, nachdem einige Grundfragen geklärt sind, in erster Linie die Priorität Gottes neu ans Licht zu bringen. Heute ist das Wichtige, dass man wieder sieht, dass es Gott gibt, dass Gott uns angeht und dass er uns antwortet. Und dass umgekehrt, wenn Er wegfällt, alles andere noch so gescheit sein kann – aber dass der Mensch dann seine Würde und seine eigentliche Menschlichkeit verliert und damit das Wesentliche zusammenbricht. Deswegen, so glaube ich, haben wir heute als neuen Akzent die Priorität der Gottesfrage zu setzen. Sie denken, die katholische Kirche könnte wirklich um das Dritte Vatikanische Konzil herumkommen? Wir haben insgesamt über 20 Konzilien gehabt, es wird sicher irgendwann wieder eines geben. Im Augenblick sehe ich die Voraussetzungen dafür nicht. Ich glaube, dass im Moment das richtige Instrument die Bischofssynoden sind, in denen der ganze Episkopat vertreten und sozusagen auf Suchbewegung ist, die ganze Kirche beieinanderhält und sie zugleich vorwärtsführt. Ob dann irgendwann der Augenblick wieder da ist, das in einem großen Konzil zu machen, das sollten wir der Zukunft überlassen. Im Moment brauchen wir vor allem geistliche Bewegungen, in denen die Weltkirche, aus den Erfahrungen der Zeit schöpfend und zugleich aus der inneren Erfahrung des Glaubens und seiner Kraft kommend, Wegmarken setzt – und damit die Präsenz Gottes wieder zum Kernpunkt macht. Als Nachfolger Petri erinnern Sie immer wieder an den entscheidenden „Plan“, den es für diese Welt gebe. Nicht einen Plan A oder irgendeinen Plan B, sondern den Plan Gottes. „Gott steht der Menschheitsgeschichte nicht gleichgültig gegenüber“, verkündeten Sie, letztendlich sei Christus „der Herr der ganzen Schöpfung und der ganzen Geschichte“. Karol Wojtyła hatte den Auftrag, die katholische Kirche über die Schwelle des dritten Jahrtausends zu führen. Welchen Auftrag hat Joseph Ratzinger? Ich würde sagen, man sollte die Geschichte nicht zu sehr zerstückeln. Wir weben an einem gemeinsamen Tuch. Karol Wojtyła war sozusagen von Gott der Kirche geschenkt in einer ganz bestimmten, kritischen Situation, in der nun einerseits die marxistische Generation, die 68er-Generation, den ganzen Westen in Frage stellte, und in der, im Gegenteil, der reale Sozialismus zerfallen ist. In diesem Gegeneinander den Durchbruch zum Glauben zu öffnen und ihn als die Mitte und den Weg zu zeigen, das war ein historischer Augenblick besonderer Art. Nicht jedes Pontifikat muss einen ganz neuen Auftrag haben. Jetzt geht es darum, dies weiterzuführen und die Dramatik der Zeit zu erfassen, in ihr das Wort Gottes als das Entscheidungswort festzuhalten – und zugleich dem Christentum jene Einfachheit und Tiefe zu geben, ohne die es nicht wirken kann. Teil II DAS PONTIFIKAT 7 Habemus Papam Selten zuvor wurde bei einer Papstwahl so schnell und so einmütig abgestimmt. Schon nach den ersten Wahlgängen habe es sich in der Sixtinischen Kapelle „dynamisch auf den neuen Papst zubewegt“, berichtet Kurienkardinal Walter Kasper. Sie selbst sprachen im Konklave ein Stoßgebet, wie man es aus dem Garten Getsemani kennt: „Herr, tu mir das nicht an! Du hast Jüngere und Bessere.“ Das Unglaubliche jetzt tatsächlich geschehen zu sehen, war wirklich ein Schock. Ich war überzeugt, dass es Bessere und Jüngere gab. Warum der Herr es mir angetan hat, musste ich Ihm überlassen. Ich habe versucht, den Gleichmut zu bewahren, ganz im Vertrauen darauf, dass Er mich jetzt schon führen wird. Ich würde langsam hineinwachsen müssen in das, was ich jeweils tun kann, und mich immer auf den nächsten Schritt beschränken. Ich finde gerade dieses Wort des Herrn so wichtig für mein ganzes Leben: „Sorgt euch nicht um morgen, jeder Tag hat seine eigene Plage.“ Eine Tagesplage reicht aus für den Menschen, mehr kann er nicht ertragen. Deswegen versuche ich, mich darauf zu konzentrieren, die heutige Plage abzutragen und das andere dem Morgen zu lassen. Auf der Loggia des Petersdomes sprachen Sie mit zittriger Stimme bei Ihrem ersten Auftritt, Gott habe nach dem „großen Papst Johannes Paul II.“ nun „einen einfachen, demütigen Arbeiter im Weinberg des Herrn“ auserwählt. Es tröste Sie, dass der Herr auch „mit unzureichenden Instrumenten zu arbeiten“ wisse. War das nun schon päpstliches Understatement? Immerhin gab es gute Gründe für Ihre Wahl. Keiner hat wie Sie als Theologe so offen und intensiv die großen Themen angepackt: Relativismus der modernen Gesellschaft, innerkirchliche Formdiskussion, Vernunft und Glaube im Zeitalter der modernen Wissenschaft. Als Präfekt der Glaubenskongregation haben Sie das vorhergehende Pontifikat mitgeprägt. Unter Ihrer Leitung entstand der Weltkatechismus, eines der Mammutunternehmen der Ära Wojtyła. Ich hatte zwar eine Leitungsfunktion inne, habe aber nichts allein gemacht, sondern im Team arbeiten können. Eben als einer unter vielen, der bei der Ernte im Weinberg des Herrn mitarbeitet. Vielleicht als Vorarbeiter, aber gleichwohl als einer, der nicht dazu beschaffen ist, der Erste zu sein und die Verantwortung des Ganzen zu tragen. So blieb mir nur, dass es neben den großen auch kleine Päpste geben muss, die das Ihre geben. In diesem Sinn habe ich gesagt, was in diesem Augenblick wirklich meine Empfindung war. Sie standen 24 Jahre lang an der Seite Johannes Pauls II. und kannten die Kurie wie kein Zweiter. Wie lange aber hat es gedauert, bis Sie ganz realisiert hatten, wie riesig die Dimensionen dieses Amtes wirklich sind? Dass es ein ungeheures Amt ist, realisiert man sehr schnell. Wenn man weiß, dass man schon als Kaplan, als Pfarrer, als Professor eine große Verantwortung trägt, lässt sich leicht extrapolieren, welche ungeheure Last auf demjenigen liegt, der Verantwortung für die ganze Kirche trägt. Aber da muss einem natürlich umso mehr bewusst sein, dass man das nicht alleine macht. Dass man es einerseits mit der Hilfe Gottes macht, andererseits in einer großen Zusammenarbeit. Das Zweite Vatikanum hat uns mit Recht gelehrt, dass für die Struktur der Kirche Kollegialität konstitutiv ist; dass der Papst nur ein Erster im Miteinander sein kann, und nicht jemand, der als absoluter Monarch einsame Entscheidungen treffen und alles selber machen würde. Der heilige Bernhard von Clairvaux hat im 12. Jahrhundert auf Bitten von Papst Eugen III. eine Gewissenserforschung mit dem Titel „Was ein Papst erwägen muss“ verfasst. Bernhard hatte eine herzliche Abneigung gegen die römische Kurie und legte dem Papst vor allem Wachsamkeit ans Herz. Im Trubel der Geschäfte müsse er Abstand finden, Übersicht behalten und entschlussfähig bleiben gegenüber den Missbräuchen, die speziell einen Papst umgeben. Er fürchte vor allem, schreibt Bernhard, „dass du, von Beschäftigungen umringt, deren Zahl nur ansteigt und deren Ende du nicht absiehst, dein Antlitz verhärtest.“ Können Sie diese „Erwägungen“ inzwischen aus eigener Erfahrung nachvollziehen? Die „Konsideration“ des heiligen Bernhard ist natürlich eine Pflichtlektüre für jeden Papst. Da stehen auch große Dinge drin, wie zum Beispiel: „Erinnere dich daran, dass du nicht der Nachfolger von Kaiser Konstantin, sondern der Nachfolger eines Fischers bist.“ Der Grundton ist der, den Sie angedeutet haben: Nicht im Aktivismus aufgehen! Es gäbe so viel zu tun, dass man ununterbrochen werkeln könnte. Und das genau ist falsch. Nicht im Aktivismus aufgehen bedeutet, die consideratio, die Umsicht, den Tiefblick, die Schau, die Zeit des inneren Abwägens, Sehens und Umgehens mit den Dingen, mit Gott und über Gott zu behalten. Dass man nicht meint, man müsste ununterbrochen arbeiten, ist an sich für jedermann wichtig, etwa auch für jeden Manager, und umso mehr für einen Papst. Er muss vieles anderen überlassen, um den inneren Überblick, die innere Sammlung zu behalten, aus der dann die Sicht aufs Wesentliche kommen kann. Man hat allerdings schon den Eindruck, Papst Benedikt arbeitet ununterbrochen, er gönnt sich keine Pause. Nein, also … Sie sind einer der eifrigsten, vielleicht sogar der eifrigste Arbeiter unter den Päpsten. Aber dazu gehört immer auch die Besinnung, das Lesen der Heiligen Schrift, das Überlegen, was sie mir sagt. Man darf nicht einfach nur Akten abarbeiten. Ich lese auch da, so viel ich kann. Aber mir steht sehr der Aufruf des heiligen Bernhard vor Augen, dass man sich nicht im Aktivismus verlieren darf. Paul VI. schrieb am Abend seiner Wahl zum Papst in sein Tagebuch: „Ich befinde mich in den päpstlichen Gemächern. Ein tiefer Eindruck von Unbehagen und Zuversicht gleichzeitig … Dann ist es Nacht, Gebet und Stille, nein, das ist keine Stille, die Welt beobachtet und überfällt mich. Ich muss lernen, sie wirklich zu lieben, die Kirche so wie sie ist, die Welt so wie sie ist.“ Hatten Sie, ähnlich wie Paul VI., am Anfang auch ein wenig Angst vor den Menschenmassen, denen Sie nun gegenübertreten mussten? Paul VI. hatte sogar überlegt, das Angelusgebet vom Fenster des Apostolischen Palastes wieder einzustellen. Er schrieb: „Was ist dieses Bedürfnis, einen Menschen sehen zu wollen?Wir sind zum Schauspiel geworden.“ Ja, die Empfindungen von Paul VI. verstehe ich sehr gut. Die Frage lautet: Ist es eigentlich richtig, dass man sich immer wieder so der Menge darbietet und sich wie ein Star anschauen lässt? Andererseits haben die Menschen das starke Verlangen, den Papst zu sehen. Da geht es dann gar nicht so sehr um den Kontakt mit der Person, sondern um die physische Berührung mit diesem Amt, mit dem Vertreter des Heiligen, mit dem Geheimnis, dass es einen Nachfolger Petri und einen gibt, der für Christus stehen muss. In diesem Sinne muss man es dann annehmen und den Jubel nicht als persönliches Kompliment auf sich selbst beziehen. Haben Sie Angst vor einem Attentat? Nein. Die katholische Kirche ist der erste und größte Global Player der Weltgeschichte. Aber sie ist bekanntlich kein Unternehmen und der Papst kein Konzernchef. Was ist anders als bei der Leitung eines multinationalen Geschäftsimperiums? Nun, wir sind keine Produktionsstätte, wir sind kein nach Gewinn strebendes Unternehmen, wir sind Kirche. Das heißt eine Gemeinschaft von Menschen, die im Glauben steht. Die Aufgabe ist nicht, irgendwie ein Produkt herzustellen oder Erfolg im Vertrieb von Waren zu haben. Die Aufgabe ist stattdessen, den Glauben vorzuleben, ihn zu verkündigen, und zugleich diese Freiwilligengemeinschaft, die alle Kulturen, Nationen und Zeiten überbrückt und die nicht auf äußeren Interessen beruht, im inneren Zusammenhang mit Christus und so mit Gott selbst zu halten. Gab es Anfangsfehler? Wahrscheinlich. Aber ich kann das jetzt im Einzelnen nicht sagen. Vielleicht macht man später sogar mehr Fehler, weil man nicht mehr so vorsichtig ist. Bedrängte Sie anfangs nicht doch auch ein wenig das Gefühl, eingesperrt zu sein? Es heißt, manchmal macht sich, um es salopp zu sagen, der Papst auch schon mal klammheimlich aus dem Staub. Das tue ich nicht. Aber dass man nun nicht mehr einfach einen Ausflug machen, Freunde besuchen, schlichtweg daheim sein kann, einfach wieder wie damals in meinem Haus in Pentling sein, mit meinem Bruder zusammen in die Stadt hinuntergehen, in irgendein Restaurant gehen und selber allein etwas anschauen kann, das ist natürlich schon ein Verlust. Aber je älter man wird, desto un-initiativer wird man, insofern erträgt man diesen Verlust auch leichter. Einige denken, der Papst befände sich in einer Art Isolation. Er atme nur gefilterte Luft und bekomme gar nicht recht mit, was „da draußen“ passiert. Er kenne die Sorgen und Nöte der Menschen gar nicht so richtig. Ich kann natürlich nicht alle Zeitungen lesen und nicht unbegrenzt Leute treffen. Aber es gibt, glaube ich, wenige Menschen, die so viele Begegnungen haben wie ich. Wichtig sind mir vor allen Dingen die Begegnungen mit den Bischöfen aus aller Welt. Das sind Menschen, die mit beiden Beinen auf dem Boden stehen, und die nicht kommen, weil sie etwas möchten, sondern die kommen, um mit mir über die Kirche an ihrem Ort und das Leben an ihrem Ort zu sprechen. So kann ich da doch sehr menschlich, persönlich und realistisch den Dingen dieser Welt begegnen und sie sogar aus einer näheren Perspektive betrachten als aus der Zeitung. Auf diese Weise erhalte ich viel Hintergrundinformation. Da kommt gelegentlich auch die Mutter mit oder eine Schwester oder ein Freund, und möchte mir dies und jenes sagen. Das sind dann nicht nur Amtsbesuche, sondern Besuche mit sehr vielen menschlichen Akzenten. Dann ist mir natürlich die päpstliche Hausgemeinschaft sehr wertvoll. Hinzu kommen die Besuche von Freunden aus den alten Zeiten. Insgesamt also könnte ich sagen, dass ich nicht in einer künstlichen Welt von Hofpersönlichkeiten lebe, sondern die normale Welt dieses Alltags und dieser Zeit über viele Begegnungen sehr direkt und persönlich miterlebe. Verfolgt der Papst täglich die Nachrichten? Auch das, natürlich. Es gab in der Geschichte schon Papst und Gegenpapst. Aber es gab noch selten – oder vielleicht noch nie – zwei Nachfolger Petri, deren Pontifikate so miteinander verschmolzen, gewissermaßen zu einer Art Millenniums-Pontifikat, wie Johannes Paul II. und Benedikt XVI. Ihrem Vorgänger ging es um globale gesellschaftliche Fehlentwicklungen, insbesondere im europäischen Osten; heute liegt der Schwerpunkt mehr auf der Kirche selbst. Könnte man sagen: Durch das, worin sich Johannes Paul II. und Benedikt XVI. unterscheiden, ergänzen sie sich perfekt? Der eine hat gewissermaßen gepflügt – der andere sät. Der eine hat geöffnet – der andere füllt aus? Das wäre vielleicht zu viel gesagt. Die Zeit geht ja auch weiter. Inzwischen ist wieder eine neue Generation mit neuen Problemen da. Die 68erGeneration mit ihren Eigentümlichkeiten ist etabliert und vergangen. Die nächste Generation, die dann pragmatischer war, ist auch schon wieder am Altwerden. Heute ist tatsächlich die Frage: Wie kommen wir in einer Welt zu Rande, die sich selbst bedroht, in der der Fortschritt zur Gefahr wird? Müssen wir nicht neu wieder mit Gott anfangen? Die Frage nach Gott steht in der neuen Generation wieder anders da. Auch die neue kirchliche Generation ist anders, sie ist positiver als die Durchbruchsgeneration der 70er Jahre. Sie sind angetreten, um sich einer inneren Erneuerung der Kirche zu widmen. Es sei „sicherzustellen, dass das Wort Gottes in seiner Größe erhalten bleibt und in seiner Reinheit wieder ertönt – so dass es nicht zerrüttet wird von ständigen Modewechseln.“ In Ihrem Jesus-Buch heißt es: „Immer wieder bedarf die Kirche, bedarf der Einzelne der Reinigung … Was allzu groß geworden ist, muss wieder in die Einfachheit und Armut des Herrn zurückgeführt werden.“ Bei Unternehmen würde man sagen: Zurück zum Ursprung, zur Kernkompetenz! Was bedeutet diese innere Erneuerung für Ihre Regierung konkret? Es bedeutet herauszufinden, wo Überflüssiges, wo Unnützes mitgeschleppt wird – und andererseits in Erfahrung zu bringen, wie es uns besser gelingen kann, das Wesentliche zu tun, so dass wir das Wort Gottes wirklich hören, leben und in dieser Zeit verkünden können. Das Paulusjahr und das Priesterjahr waren zwei Versuche, in diesem Sinne Impulse zu geben. Auf die Gestalt des Paulus aufmerksam zu machen, das bedeutet, das Evangelium in seiner ursprünglichen Vitalität, Einfachheit und Radikalität vor uns hinzustellen, es wieder gegenwärtig zu halten. Das Priesterjahr sollte gerade in der Zeit, in der das Weihesakrament so beschmutzt dasteht, auch wieder den unverwechselbaren, einzigartigen Auftrag dieses Amtes in seiner Schönheit darstellen, trotz aller Leiden, trotz alles Schrecklichen. Wir müssen versuchen, die Demut und die Größe miteinander zu verbinden, um damit dem Priester auch wieder Mut zu machen und Freude am Priestertum zu geben. Auch die Synoden dienen diesem Weg, beispielsweise die Synode über das Wort Gottes. Schon der Austausch darüber war sehr wichtig. Heute geht es darum, die großen Themen hinzustellen und zugleich – wie mit der Caritas-Enzyklika „Gott ist die Liebe“ – die Mitte des Christseins und damit auch die Einfachheit des Christseins wieder sichtbar zu machen. Eines Ihrer großen Themen ist der Brückenschlag zwischen Religion und Rationalität. Warum gehören Glaube und Vernunft zusammen? Könnte man nicht auch einfach „nur“ glauben? Jesus sagt: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ Nicht sehen ist die eine Sache, aber auch der Glaube des nicht Sehenden muss seine Gründe haben. Jesus selbst hat den Glauben durchaus verständlich gemacht, indem er ihn mit der inneren Einheit und in der Kontinuität mit dem Alten Testament, mit den ganzen Führungen Gottes dargestellt hat: als den Glauben an den Gott, der der Schöpfer und der Herr der Geschichte ist, für den die Geschichte zeugt und von dem die Schöpfung spricht. Es ist interessant, dass diese wesentliche Rationalität schon im Alten Testament zum Grundbestand des Glaubens gehört; dass dann insbesondere in der Zeit des Babylonischen Exils gesagt wird: „Unser Gott ist nicht irgendeiner von den vielen, er ist der Schöpfer, der Gott des Himmels, der einzige Gott.“ Damit wird ein Anspruch erhoben, dessen Universalität gerade auch auf seiner Vernünftigkeit beruht. Dieser Kern wurde später der Begegnungspunkt zwischen Altem Testament und Griechentum. Denn ungefähr in der gleichen Zeit, in der das Babylonische Exil diesen Zug im Alten Testament besonders heraushebt, entsteht auch die griechische Philosophie, die nun über die Götter hinaus nach dem einen Gott fragt. Es bleibt der große Auftrag der Kirche, dass sie Glaube und Vernunft, das Hinausschauen über das Greifbare und zugleich die rationale Verantwortung miteinander verbindet. Denn die ist uns ja von Gott gegeben. Sie ist das, was den Menschen auszeichnet. Was ist nun das spezielle Charisma, das ein Papst aus Deutschland mitbringt? Die Deutschen waren fast tausend Jahre lang Träger des Heiligen Römischen Reiches. Das tiefe Schürfen nach Erkenntnis ist eines der Grundthemen in der deutschen Kulturgeschichte, verkörpert durch Mystiker wie Meister Eckhart, Universalgelehrte wie Albertus Magnus, bis hin zu einem Goethe, Kant und Hegel. Deutschland ist freilich auch das Land der Kirchenspaltung. Die Wiege des wissenschaftlichen Kommunismus, der das Paradies nicht im Himmel, sondern auf Erden versprach. Und nicht zuletzt Schauplatz eines wahrhaft diabolischen Regimes, das sich die totale Vernichtung der Juden, des auserwählten Gottesvolkes, auf die Fahnen schrieb. Sie haben es ja angedeutet, wir haben in Deutschland eine vielschichtige, widersprüchliche und dramatische Geschichte. Eine Geschichte voller Schuld und voller Leid. Aber auch eine Geschichte mit menschlicher Größe. Eine Geschichte mit Heiligkeit. Eine Geschichte großer Erkenntniskraft. Insofern gibt es nicht einfach das deutsche Charisma. Sie haben darauf hingewiesen, dass zur deutschen Kulturgeschichte besonders auch die Nachdenklichkeit gehört. Dieses Element wurde lange Zeit als herausstechend angesehen. Heute würde man vielleicht eher Talente wie Tatkraft, Energie oder Durchsetzungsvermögen als typisch deutsch ansehen. Ich denke, Gott wollte, wenn er schon einen Professor zum Papst machte, dass eben dieses Moment der Nachdenklichkeit und gerade das Ringen um die Einheit von Glaube und Vernunft in den Vordergrund komme. 8 In den Schuhen des Fischers Die schwarzen Ringe unter den Augen wurden anfangs, wenn ich das so sagen darf, zu Ihrem besonderen Kennzeichen. Am Ende der Ära Johannes Pauls II., so heißt es, sei eben doch auch ziemlich viel liegen geblieben, schon bedingt durch seine Krankheit. Sicher hat Johannes Paul II. manchmal gezögert, Entscheidungen zu fällen. Aber insgesamt war durch die Mitarbeiter, die er gewählt hatte, der Fortgang der Geschäfte durchaus gegeben. Und die großen Entscheidungen hat er nach wie vor getroffen. Er war leidend, aber er war wissend. Insofern war an sich das Gerät der Kirche, wenn man so sagen will, durchaus in Aktion. Es ist kein Geheimnis, dass sich Johannes Paul II. für die Belange der römischen Kurie nicht besonders stark engagiert und interessiert hat. Trotzdem hat er die Kurienreform gemacht und der Kurie ihre jetzige Struktur gegeben. Auch wenn er viele Entscheidungen dann den Mitarbeitern überließ, so hat er doch stets das Ganze im Blick gehabt und die wesentlichen Verantwortungen durchaus selbst wahrgenommen. Hat die lange Krankheit möglicherweise auch Reformvorhaben geblockt, die ansonsten längst eingeleitet worden wären? Ich glaube nicht. Er hatte so wichtige Akzente gesetzt, dass es eigentlich fast notwendig war, nach den großen Aufbrüchen, den vielen neuen Verkündigungen, Enzykliken und Reisen mit all ihren Programmen eine Zeit des Innehaltens zu haben, in der man diese Dinge allmählich durchdringen und sich aneignen konnte. Und es sind noch in den letzten Zeiten berührende neue Texte entstanden. Etwa das Apostolische Schreiben „Tertio millennio adveniente“ zur Vorbereitung auf das Millenniums-Jahr 2000. Das ist ein Text, der ganz warmherzig, fast poetisch ist. Die Zeit seines Leidens war ja keine leere Zeit. Ich glaube, für die Kirche selber war es sehr wichtig, gerade nach einer großen Aktivität dann die Lektion der Passion zu haben und zu sehen, dass die Kirche auch durch Passion geleitet werden kann, und dass sie gerade durch die Passion reif wird und lebt. Diese Passion schien das kieloben schwimmende Schiff Kirche nachgerade umdrehen zu können. Wie über Nacht tauchte eine Generation junger, frommer Menschen auf, die zuvor kaum jemand wahrgenommen hatte. Das Mitleid war gewaltig. Man konnte sehen, dass die Lektion des leidenden Papstes ein Lehramt war, das über das Lehramt des sprechenden Papstes noch hinausging. Das Mitleiden, die Erschütterung, die Begegnung in gewisser Weise mit dem Leiden Christi, hatte die Menschen tiefer ins Herz getroffen als das, was er in der Aktivität tun konnte. Es hatte wirklich einen neuen Aufbruch, auch eine neue Liebe zu diesem Papst entfaltet. Ich würde nicht sagen, dass sich dadurch eine totale Wende in der Kirche vollzogen hat. Es sind ja in der Weltgeschichte so viele Akteure und Aktionen wirksam. Aber es war ein Akzent, in dem plötzlich die Macht des Kreuzes sichtbar wurde. Ihre Wahl zum 265. Oberhaupt der universalen Kirche wurde von niemandem stärker begrüßt als von jüdischen Organisationen. Joseph Ratzinger habe bereits in seiner Zeit als Präfekt der Glaubenskongregation die Untermauerung für die Annäherung der beiden Weltreligionen geliefert, so Israel Singer, damals Vorsitzender des Jüdischen Weltkongresses; er habe im Positiven „die zweitausendjährige Geschichte der Beziehungen zwischen Judentum und Christentum verändert“. Als erster Papst luden Sie einen Rabbiner ein, vor der Bischofssynode zu sprechen. Sie stoppten den Seligsprechungsprozess für einen französischen Priester, dem antisemitische Reden vorgehalten wurden. Sie haben mehr Synagogen besucht als alle Päpste vor Ihnen. Die „Süddeutsche Zeitung“ vermeldete damals: „Er bekennt sich zur jüdischen Genese des Christentums, wie sie noch keinem Papst aus der Feder floss.“ Gleich Ihre erste Amtshandlung als Nachfolger Petri bestand in einem Brief an die jüdische Gemeinde von Rom. Sollte diese Symbolik einen Grundtenor des Pontifikates verdeutlichen? Auf jeden Fall. Ich muss sagen, dass mir vom ersten Tag meines Theologiestudiums an die innere Einheit von Altem und Neuem Bund, der beiden Teile unserer Heiligen Schrift, irgendwie sofort klar war. Mir war aufgegangen, dass wir das Neue Testament nur zusammen mit dem Vorangegangenen lesen können, ansonsten würden wir es gar nicht verstehen. Dann hat natürlich uns als Deutsche getroffen, was im Dritten Reich geschehen war, und uns erst recht angehalten, mit Demut und Scham und mit Liebe auf das Volk Israel zu schauen. Diese Dinge haben sich, wie gesagt, bereits in meiner theologischen Ausbildung miteinander verbunden und meinen Weg im theologischen Denken geformt. Deshalb war es für mich klar – auch hier in voller Kontinuität mit Papst Johannes Paul II. –, dass dieses neue, liebende, verstehende Ineinander von Israel und Kirche im jeweiligen Respekt für das Sein des anderen und seine eigene Sendung wesentlich sein muss für meine Verkündigung des christlichen Glaubens. Ihr Vorgänger nannte die Juden „unsere älteren Brüder“, Sie sprechen von „Vätern im Glauben“. Das Wort „der ältere Bruder“, das schon Johannes XXIII. gebrauchte, wird von den Juden nicht so gerne gehört. Und zwar deshalb, weil in der jüdischen Tradition der „ältere Bruder“ – Esau – auch der verworfene Bruder ist. Man kann es trotzdem gebrauchen, weil es etwas Wichtiges aussagt. Aber richtig ist, dass sie auch unsere „Väter im Glauben“ sind. Und vielleicht veranschaulicht dieses Wort noch deutlicher, wie wir zueinander stehen. Nach Ihrem Amtsantritt wird der neue Stil des Hauses schnell deutlich. Es gibt keinen „eiligen Vater“ mehr, der von Event zu Event jettet. Keine ausufernden Audienzen, die nun um die Hälfte reduziert werden. Sie schaffen den Handkuss ab – was allerdings niemand befolgt. Als Nächstes verschwindet die Tiara aus dem päpstlichen Wappen, Symbol des Papsttums auch für weltliche Macht. Noch etwas ändert sich: Ihr Vorgänger hatte sich angewöhnt, in der Einzelperson zu sprechen; Benedikt XVI. führt nach dem „Ich“ wieder das päpstliche „Wir“ ein. Was war der Grund hierfür? Ich möchte nur auf zwei Punkte eingehen. Die Tiara hatte schon Paul VI. abgelegt … … und verkauft, um das Geld den Armen zu geben. Sie war allerdings noch im päpstlichen Wappen, und da ist sie jetzt auch verschwunden. Ich habe das „Ich“ nicht einfach gestrichen, sondern es gibt nun beides, das „Ich“ und das „Wir“. Denn in ganz vielen Dingen sage ich ja nicht einfach bloß, was Joseph Ratzinger eingefallen ist, sondern rede aus der Gemeinschaftlichkeit der Kirche heraus. Ich spreche dann gewissermaßen im inneren Miteinander mit den Mitglaubenden – und drücke aus, was wir gemeinsam sind und gemeinsam glauben können. Insofern hat das „Wir“ nicht als Majestätsplural, sondern als Realität des Kommens von den anderen her, des Redens durch die anderen und mit den anderen, seinen berechtigten Stellenwert. Wo man aber als „Ich“ etwas Persönliches sagt, muss dann auch das „Ich“ auftreten. Es gibt also beides, das „Ich“ und das „Wir“. Ihre erste Bischofsynode, im Oktober 2005, kürzen Sie von vier auf drei Wochen. Dazu wird die freie Debatte eingeführt und eine höhere Zahl von „brüderlichen Delegierten“ anderer Kirchen eingeladen. Gleichzeitig führen Sie wieder die regelmäßigen Besprechungen mit allen Dikasterienchefs ein, um den gegenseitigen Austausch in der Kurie zu fördern. Personalentscheidungen allerdings gelten, besonders wenn es um das engste Umfeld des Papstes geht, gelegentlich als problematisch. Ist das Ihre Schwachstelle? Die Kürzung der Synode war, glaube ich, im Sinne aller Beteiligten. Denn wenn ein Bischof vier Wochen von seiner Diözese abwesend ist, ist das einfach zu viel. Ein Bischof nimmt gerade auch dadurch an der Regierung der Gesamtkirche teil, dass er seine Ortskirche richtig regiert und sie im Inneren zusammenhält. Wie sich gezeigt hat, lässt sich eine Straffung ohne weiteres durchführen. Wichtig war mir tatsächlich, dass nicht nur lauter vorbereitete Reden vorgelesen werden, die dann niemals einen Dialog ergeben, sondern dass es Gelegenheit gibt, wo man frei aus dem Herzen spricht und dann auch ein echter Dialog entsteht. Personalentscheidungen sind schwierig, weil niemand in das Herz des anderen hineinschauen kann und niemand vor Täuschungen sicher ist. Deswegen bin ich da vorsichtiger, ängstlicher, und nur nach vielfältiger Beratung fälle ich hier Entscheidungen. Und ich glaube, dass in den vergangenen Jahren doch auch eine ganze Reihe wirklich guter Personalentscheidungen geglückt sind; auch im deutschen Episkopat. Beobachter registrieren, dass in der römischen Kurie zunehmend Ordensleute verantwortliche Positionen übernehmen. Die Tageszeitung „Il Foglio“ sprach gar schon von einer „kopernikanischen Wende“ in der Personalpolitik des Vatikans. Kritiker, umgekehrt, würden allzu gerne eine „Unterwanderung durch Fundamentalisten“ nachweisen. Ist die Berufung von Ordenspriestern, die den Gelübden von Armut, Keuschheit und Gehorsam verpflichtet sind, eine Art Gegengift zu Karrieredenken und Intrigantentum, die auch im Vatikan nicht fremd sind? Es sind eine Reihe von Ordensleuten berufen worden, weil wir dort eine Reserve von wirklich guten Leuten haben, die große Begabungen verkörpern und geistliche Menschen sind. Aber es ist nicht so, dass der Anteil unmäßig gestiegen wäre. Ich versuche, den Richtigen zu finden, ob er nun Ordensmann oder Diözesanpriester ist. Entscheidend ist, dass er die Qualitäten hat, dass er ein geistlicher Mensch, ein wirklich glaubender und vor allem ein mutiger Mensch ist. Ich denke, Mut ist eine der Hauptqualitäten, die ein Bischof und ein Kurienführer heute haben müssen. Dazu gehört, sich nicht vor dem Diktat der Meinungen zu beugen, sondern aus der inneren Erkenntnis heraus zu handeln, auch wenn sie Ärger bringt. Und es müssen natürlich Menschen sein, die intellektuelle, professionelle und menschliche Qualitäten haben, so dass sie auch führen und andere mit in eine familiäre Gemeinschaft einspannen können. Als Chef der Glaubenskongregation war es für mich zum Beispiel sehr wichtig, dass wir eine Gemeinschaft waren, dass wir nicht untereinander oder nebeneinander gestritten haben, sondern dass Familie da war. Diese Fähigkeit, zueinanderzuführen und Teamgeist zu schaffen, halte ich für sehr wichtig. Ein Papst spricht immer auch in Gesten und Gebärden, Zeichen und Symbolen. Für Aufsehen sorgte die Wahl des inzwischen berühmt gewordenen Camauro als winterliche Kopfbedeckung, eine Art Zipfelmütze, die zuletzt Johannes XXIII. getragen hatte. War das nur ein modisches Accessoire – oder Ausdruck für den Rückgriff auf alte, bewährte Formen in der Kirche? Ich habe ihn nur einmal getragen. Mich hat einfach gefroren, und ich bin am Kopf empfindlich. Und ich habe gesagt, wenn wir da schon den Camauro haben, dann setzen wir ihn auch auf. Aber es war wirklich nur der Versuch, der Kälte zu widerstehen. Seither habe ich es nicht mehr getan. Damit nicht überflüssige Interpretationen aufkommen. 9 Ökumene und Gespräch mit dem Islam Die Ökumene wird sehr bald das auffälligste Zeichen dieses Pontifikats. Der Papst verspricht, sich unermüdlich „für die Wiederherstellung der vollen und sichtbaren Einheit“ der Christen einzusetzen. Beobachter sahen in der Hinwendung zur Orthodoxie einen strategischen Coup, das Tor zur Einigung da zu bauen, wo die größte Übereinstimmung herrscht. Die Ökumene ist vielschichtig und vielgesichtig. Wir haben hier die ganze Weltorthodoxie, die in sich schon sehr vielfältig ist, dann den Weltprotestantismus, wo sich die klassischen Konfessionen vom neuen Protestantismus unterscheiden, der jetzt wächst und ein Zeichen der Zeit ist. Der Ort, wo wir sozusagen am nächsten zu Hause sind und am ehesten auch hoffen können, zueinander zu kommen, ist die Orthodoxie. Schon Paul VI. und Johannes Paul II. hatten sich sehr um die Orthodoxie gemüht. Ich selbst hatte immer sehr enge Kontakte mit Orthodoxen. Ich hatte als Professor in Bonn und in Regensburg auch orthodoxe Studenten unter meinen Schülern und konnte auf diese Weise im orthodoxen Raum viele Freundschaften finden. Katholiken und Orthodoxe haben beide die gleiche altkirchliche Grundstruktur; insofern war es naheliegend, dass ich um diese Begegnung besonders ringe. Inzwischen sind hier wirkliche Freundschaften entstanden. Ich bin sehr dankbar für die Herzlichkeit, die mir der Ökumenische Patriarch Bartholomaios entgegenbringt, der nicht nur eine Pflichtökumene macht; zwischen uns gibt es wirklich Freundschaft, Brüderlichkeit. Und sehr dankbar bin ich auch für die Freundschaft und große Herzlichkeit, die mir Patriarch Kyrill entgegenbringt. Wobei der Patriarch von Moskau der erste Besucher war, den Sie nach Ihrer Papstwahl empfangen haben. Damals war er noch nicht Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche in Moskau, sondern deren Außenminister. Wir haben uns gleich verstanden. Er hat so etwas Fröhliches, einfach Gläubiges an sich, sozusagen das Einfache der russischen Seele und zugleich ihre Entschiedenheit und Herzlichkeit, so dass zwischen uns ein gutes Einverständnis entstanden ist. Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass diese große orthodoxe Welt mit ihren inneren Spannungen doch auch ihre innere Einheit mit der so anders gearteten lateinischen Weltkirche sieht. Dass wir uns bei allen Unterschieden, die die Jahrhunderte aufgebaut haben und die durch die kulturellen Trennungen und anderes bedingt sind, doch wieder wirklich in unserer inneren geistlichen Nähe sehen und verstehen. Auf dieser Ebene, denke ich, machen wir Fortschritte. Das sind keine taktischen, politischen Fortschritte, sondern Annäherungen in der inneren Zugewandtheit. Das finde ich etwas sehr Tröstendes. Aber wieso sollte diese Annäherung große Bedeutung für „die Zukunft der Weltgeschichte“ haben, wie Sie erklärten? Weil darin wieder unsere gemeinsame Verantwortung für die Welt sichtbar wird. Wir könnten ja auch ständig über alles Mögliche streiten. Oder wir können, ausgehend davon, was uns gemeinsam ist, einen gemeinsamen Dienst tun. Und die Welt, das ist in diesem Gespräch deutlich geworden, braucht ein begründetes, geistlich fundiertes und rational getragenes Potential an Zeugnis für den einen Gott, der in Christus zu uns spricht. Insofern ist unser Miteinander ungeheuer wichtig. Kyrill betont das ebenfalls, gerade in der Auseinandersetzung um die großen ethischen Fragen. Wir sind keine Moralisten, aber wir tragen vom Fundament des Glaubens her eine ethische Botschaft, die den Menschen Orientierung gibt. Und es miteinander zu tun, ist in der Krise der Völker von größter Bedeutung. 97 Prozent Kircheneinheit sind laut Ökumene-Bischof Gerhard Ludwig Müller zwischen Orthodoxen und Katholiken schon erreicht. Die restlichen drei Prozent seien die Frage nach dem Primat und der Jurisdiktion des Papstes. Sie haben nicht nur die Tiara als Symbol von Macht aus dem Wappen genommen, sondern auch die Bezeichnung „Patriarch des Abendlandes“ aus den Papst-Titeln streichen lassen. Der Bischof von Rom sei nur Erster unter Gleichen. Bezeichnenderweise hatten Sie bereits als Kardinal im Jahr 2000 in dem Dekret „Dominus Iesus“ erklärt, dass es echte Teilkirchen gibt, „obwohl ihnen die volle Gemeinschaft mit der katholischen Kirche fehlt, insofern sie die katholische Lehre vom Primat nicht annehmen …“ Wird Benedikt XVI. das Papsttum umbauen zugunsten der Einheit des Christentums? Da wären jetzt natürlich einige Präzisierungen nötig. „Erster unter Gleichen“ ist nicht genau die Formel, die wir als Katholiken glauben. Der Papst ist Erster – und hat auch spezifische Funktionen und Aufgaben. In diesem Sinne sind nicht alle gleich. „Erster unter Gleichen“, das würde die Orthodoxie ohne Weiteres annehmen. Sie anerkennt, dass der Bischof von Rom der Protos, der Erste ist, das ist schon im Konzil von Nizäa festgelegt. Aber die Frage ist eben: Hat er spezifische Aufgaben oder nicht? Schwierig ist auch das Zitat aus „Dominus Iesus“. Aber das sind Streitpunkte, da bräuchte man mehr Worte, als ich jetzt aufwenden kann … Heißt das, Papst Ratzinger widerspricht dem früheren Kardinal und Glaubenswächter Ratzinger? Nein, das ist das Erbe des Zweiten Vatikanischen Konzils und der ganzen Kirchengeschichte, das ich verteidigt habe. Der Passus bedeutet, dass die Ostkirchen echte Teilkirchen sind, obwohl sie nicht mit dem Papst in Verbindung sind. In diesem Sinne ist die Einheit mit dem Papst nicht konstitutiv für die Teilkirche. Wohl aber ist der Mangel an Einheit auch ein innerer Mangel in der Teilkirche. Denn die Teilkirche ist darauf hingeordnet, einem Ganzen zuzugehören. Insofern ist die Nichtkommunion mit dem Papst sozusagen ein Mangel in dieser Lebenszelle. Sie bleibt eine Zelle, sie darf Kirche heißen, aber in der Zelle fehlt ein Punkt, nämlich die Verknüpfung mit dem Gesamtorganismus. Ich würde auch nicht so mutig sein wie Bischof Müller, dass ich jetzt wagen würde zu sagen, drei Prozent fehlen uns noch. Es gibt vor allen Dingen ungeheure geschichtliche und kulturelle Differenzen. Über die Lehrfragen hinaus sind noch viele Herzensschritte zu tun. Gott muss da noch an uns arbeiten. Deswegen würde ich auch nicht wagen, irgendwelche Zeitprophetien zu geben. Wichtig ist, dass wir uns wirklich mögen, dass wir in einer inneren Einheit sind, dass wir so nahe aufeinander zugehen, so viel miteinander arbeiten, wie wir nur können, im Übrigen versuchen, die Restbestände an offenen Fragen aufzuarbeiten – und bei all dem immer auch wissen, dass Gott uns helfen muss, dass wir es allein nicht können. Immerhin hält der griechisch-orthodoxe Metropolit Augoustinos bereits heute einen Ehrenprimat des Papstes für alle Christen für möglich. Auch der evangelische Landesbischof Johannes Friedrich brachte eine eingeschränkte Anerkennung des Papstamtes als „ökumenisch akzeptierten Sprecher der Weltchristenheit“ ins Gespräch. Ist das dieselbe Richtung, wenn Sie sagen, heute müssten sich die Kirchen vom Vorbild des ersten Jahrtausends inspirieren lassen? Es haben zusätzlich auch Anglikaner erklärt, dass sie sich einen Ehrenprimat des römischen Papstes, unter anderem in der Funktion eines Sprechers der Christenheit, vorstellen können. Das ist natürlich schon ein bedeutender Schritt. Und de facto ist es auch so, dass die Welt, wenn der Papst zu großen ethischen Problemen Stellung nimmt, dies als die Stimme der Christenheit ansieht. Auch der Papst selbst bemüht sich darum, in solchen Dingen sozusagen für die Christen zu sprechen und nicht das spezifisch Katholische in den Vordergrund zu rücken; das hat einen anderen Ort. Insofern gibt es das bereits, dass der Bischof von Rom einfach aufgrund der Position, die ihm in der Geschichte zugewachsen ist, bis zu einem gewissen Grade für die Christen insgesamt sprechen kann. Das ist auch ein wichtiger ökumenischer Faktor, der eine nie ganz verlorene innere Einheit des Christentums äußerlich darstellt. Man darf ihn nicht überschätzen. Es bleiben genug Gegensätze. Aber dass es so etwas gibt, ist ein Grund zur Dankbarkeit. Den Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel haben Sie bereits getroffen. Was die russisch-orthodoxe Kirche betrifft, meinte ihr Außenamtschef Erzbischof Hilarion: „Wir nähern uns dem Zeitpunkt, an dem es möglich wird, ein Treffen zwischen dem Papst und dem Patriarchen von Moskau vorzubereiten.“ Dieses Treffen wäre eine Weltsensation. Halten Sie es noch in diesem Pontifikat für möglich? Das kommt darauf an, wie viel Leben mir der Liebe Gott noch schenkt, aber ich hoffe es. Es war ja schon eine sehr schöne Geste, dass der Patriarch hier in Rom anlässlich des fünfjährigen Bestehens des Pontifikates für mich ein Konzert durch Hilarion geben ließ, der selbst Komponist ist und eine seiner Kompositionen aufgeführt hat. Es bestehen also vielfältige Kontakte. Allerdings muss die orthodoxe Öffentlichkeit in Russland auf so etwas vorbereitet werden. Es gibt hier noch immer eine gewisse Furcht vor der katholischen Kirche. Das muss man in Geduld abwarten, man darf nichts übers Knie brechen. Aber von beiden Seiten ist der Wille da, und es wächst auch der Kontext, in dem dies dann gedeihen kann. Ein nicht allzu fernes Treffen Rom-Moskau liegt im Bereich des Möglichen? Das würde ich sagen, ja. Auch in der Frage der Kircheneinheit in China gibt es Fortschritte. Inzwischen wurden fast alle von den staatlichen Behörden in China ernannten Bischöfe auch von Rom anerkannt. Eine Vereinigung der vom Staat anerkannten und der von ihm nicht anerkannten katholischen Gemeinschaft wird von beiden Seiten als nahe liegendes Ziel angegeben. Was denken Sie: Kann diese Vereinigung – vorausgesetzt, wie Sie sagten, der Herr schenkt Ihnen ein langes Leben – noch in der benediktinischen Ära erfolgen? Ich hoffe es. Das Gebet Jesu um die Einheit aller, die an ihn glauben (Joh 17), trägt seine Früchte auch in China. Die ganze Kirche, die in China lebt, ist gerufen, in einer tiefen geistlichen Einheit zu leben, in der auch eine harmonische hierarchische Einheit in der Gemeinschaft mit dem Bischof von Rom reift. Es tauchen natürlich immer neue Stolpersteine auf. Aber wir haben bereits ein gutes Stück Weg geschafft. Und wie Sie selber gesagt haben, hat die große Mehrheit der Bischöfe, die in der Vergangenheit ohne apostolischen Auftrag aus Rom geweiht worden waren, inzwischen den Primat anerkannt und ist damit in die Gemeinschaft mit Rom eingetreten. Auch wenn immer unerwartete Schwierigkeiten auftreten, ist die Hoffnung groß, dass wir die Trennung definitiv überwinden können. Dieses ist ein Ziel, das mir besonders am Herzen liegt und das ich täglich im Gebet vor den Herrn trage. Wie kam es zu dieser Entwicklung, die sich noch bis vor Kurzem niemand vorstellen konnte? Die Faktoren, die die positive Entwicklung der katholischen Kirche in China gefördert haben, sind vielfältig. Ich nenne einige davon. Einerseits ist das lebendige Verlangen, mit dem Papst in Einheit zu stehen, bei den illegitim geweihten Bischöfen nie abwesend gewesen. Dies hat es nahezu allen möglich gemacht, den Weg auf die Kommuniongemeinschaft hin zu gehen, wobei sie von der geduldigen Arbeit begleitet wurden, die einzeln mit ihnen getan worden ist. Hier war ein katholisches Grundbewusstsein vorhanden, dass man eben erst in dieser Gemeinschaft wirklich Bischof ist. Auf der anderen Seite können die geheim geweihten und von der staatlichen Autorität nicht anerkannten Bischöfe jetzt aus der Tatsache Nutzen ziehen, dass es schon aus Staatsraison nicht nützlich ist, katholische Bischöfe wegen ihrer Romzugehörigkeit ins Gefängnis zu sperren und sie ihrer Freiheit zu berauben. Hier handelt es sich um eine unverzichtbare Voraussetzung und zugleich um eine entscheidende Hilfe, um zur vollen Einheit zwischen beiden katholischen Gemeinschaften zu kommen. Problematisch geworden scheint der ökumenische Dialog mit den Protestanten. In der Orthodoxie steht er ohnehin nicht auf der Tagesordnung. Hier sind die Gräben zu tief geworden. Aber auch nach Ansicht römisch-katholischer Bischöfe haben Teile der protestantischen Kirchen unter dem Druck der Moderne vieles von ihren Traditionen aufgegeben. Sie hätten sich seit den 70er Jahren zunächst sozialistisch, dann ökologisch und heute feministisch ausgerichtet, mit neuer Tendenz zum Gender-Mainstream. Der Dialog werde mit dem Ziel einer Protestantisierung der katholischen Kirche geführt, die als rückständig dargestellt werde, um sich als progressive Alternative profilieren zu können. Wäre es, um weitere Frustrationen zu vermeiden, dann nicht aufrichtiger, zu sagen: Gut, lasst uns Freunde sein. Lasst uns zusammenarbeiten in einer konzertierten christlichen Aktion, aber eine Vereinigung ist leider nicht möglich – es sei denn um den Preis der eigenen Selbstaufgabe. Zunächst muss man die große Vielschichtigkeit des weltweiten Protestantismus bedenken. Das Luthertum ist ja nur eines der Teile im Spektrum des Weltprotestantismus. Daneben gibt es die Reformierten, die Methodisten und so fort. Dann ist da das große neue Phänomen der Evangelikalen, die sich mit einer ungeheuren Dynamik ausbreiten und im Begriff sind, in den Ländern der Dritten Welt die ganze religiöse Szenerie zu verändern. Wenn man also von einem Dialog mit dem Protestantismus spricht, muss man diese Vielschichtigkeit vor Augen haben, die auch von Land zu Land wieder verschieden ist. Man muss tatsächlich feststellen, dass der Protestantismus Schritte getan hat, die ihn eher von uns entfernen; mit der Frauenordination, der Akzeptanz homosexueller Partnerschaften und dergleichen mehr. Es gibt auch andere ethische Stellungnahmen, andere Konformismen mit dem Geist der Gegenwart, die das Gespräch erschweren. Zugleich gibt es natürlich auch in den protestantischen Gemeinschaften Menschen, die lebhaft zur eigentlichen Substanz des Glaubens hindrängen und diese Haltung ihrer Großkirchen nicht billigen. Wir sollten deshalb sagen: Wir müssen als Christen eine gemeinsame Basis finden; wir müssen als Christen imstande sein, in dieser Zeit eine gemeinsame Stimme zu den großen Fragen zu haben und Christus als den lebendigen Gott zu bezeugen. Die volle Einheit können wir in absehbarer Zeit nicht bewerkstelligen, aber tun wir, was möglich ist, um wirklich als Christen in dieser Welt gemeinsam einen Auftrag zu erfüllen, ein Zeugnis zu geben. Werden die Protestanten vom Papst wirklich nicht als Kirche angesehen, sondern, im Gegensatz zur Ostkirche, nur als kirchliche Gemeinschaft? Auf viele wirkt diese Einordnung herabwürdigend. Das Wort „kirchliche Gemeinschaft“ ist eine Terminologie des Zweiten Vatikanums. Das Konzil hat hier eine sehr einfache Regel angewandt: Kirche im eigentlichen Sinn ist nach unserem Verständnis da, wo das Bischofsamt in der sakramentalen Nachfolge der Apostel gegeben ist – und damit die Eucharistie als Sakrament vorliegt, das der Bischof und der Priester spenden. Wo dies nicht der Fall ist, ist ein anderer Typus aufgebrochen, eine neue Art, Kirche zu verstehen, die wir im Vatikanum II mit dem Wort „kirchliche Gemeinschaft“ bezeichnet haben. Es sollte zeigen, dass sie auf andere Weise Kirche sind. Eben nicht, wie sie das ja selbst erklären, auf die gleiche Art, wie es die Kirchen der großen Tradition des Altertums sind, sondern aus einem neuen Verständnis heraus, wonach Kirche nicht in der Institution liegt, sondern in der Dynamik des Wortes, das die Menschen versammelt und zur Gemeinde macht. Insofern ist diese Terminologie ein Versuch, das Besondere der protestantischen Christenheit zu erfassen und es positiv auszudrücken. Da kann man immer noch nach besseren Wörtern suchen, aber die Grundunterscheidung ist berechtigt; sie ist ja schon rein historisch gegeben. Im Übrigen ist noch einmal zu betonen, dass die kirchliche Situation der einzelnen protestantischen Gemeinschaften sehr unterschiedlich ist. Sie definieren sich auch untereinander sehr unterschiedlich, so dass man nicht von der protestantischen Kirche sprechen kann. Es geht einfach darum, zu sehen, dass das Christentum im Protestantismus sozusagen eine Akzentverschiebung vorgenommen hat, und dass wir versuchen, das zu verstehen; dass wir uns gegenseitig als Christen anerkennen und miteinander einen Dienst als Christen tun. Und über die Definition, was Kirche ist, kann auch ein Papst nichts anderes sagen? Nein. Darüber kann er nicht verfügen. Er ist an das Zweite Vatikanum gebunden. Bei der Ökumene mit kirchlichen Gemeinschaften des Westens konzentriert sich der Vatikan auf die Anglikaner, den Lutherischen Weltbund, die Reformierte Weltallianz und den Weltrat der Methodisten. Geöffnet sind die Pforten Roms bereits für übertrittswillige Anglikaner. Mit der hierfür von Ihnen erlassenen Apostolischen Konstitution entsteht erstmals eine eigene rechtliche und organisatorische Struktur für Teilkirchen. Bisher war die Vorstellung der Einheit mit dem Bild der Heimkehr in die lateinische Kirche verbunden. Ist das bereits der Präzedenzfall für nachfolgewillige andere Gruppen? Es ist jedenfalls ein Versuch, auf eine spezifische Herausforderung Antwort zu geben. Die Initiative ist nicht von uns ausgegangen, sondern von anglikanischen Bischöfen, die in ein Gespräch mit der Glaubenskongregation eingetreten sind und vorgefühlt haben, in welcher Form man zueinander kommen könnte. Sie sagten, dass sie vollständig den Glauben teilen, der im Katechismus der katholischen Kirche beschrieben ist. Das sei genau auch ihr Glaube. Man müsse nun sehen, wie weit sie ihre eigene Tradition, ihre eigene gewachsene Lebensform mit allem Reichtum, der darin enthalten ist, bewahren könnten. Daraus ist dann dieser Entwurf als ein Angebot entstanden. Wie weit es genutzt wird, wie weit es in der Realität dann tragen wird, welche Entwicklungen und Variationen es darin geben kann, das muss man noch sehen. Aber es ist immerhin ein Zeichen, sagen wir, für die Flexibilität der katholischen Kirche. Wir wollen zwar nicht neu unierte Kirchen schaffen, aber wir wollen Möglichkeiten bieten, teilkirchliche Traditionen, Traditionen, die außerhalb der römischen Kirche gewachsen sind, in die Gemeinschaft mit dem Papst und so in die katholische Gemeinschaft einzubringen. In den Beziehungen zwischen Kirche und Muslimen löste Ihre „Regensburger Rede“ vom 12. September 2006 eine gewaltige Kontroverse aus. Sie zitierten darin eine Stelle aus einem historischen Buch, das den Dialog zwischen dem byzantinischen Kaiser und einem gebildeten Perser über Islam und Christentum wiedergibt.1 Hinterher gingen in islamischen Ländern christliche Gotteshäuser in Flammen auf, westliche Journalisten schrieben wütende Kommentare. Die Rede wurde als erster Fehler des Pontifikats eingeordnet. War sie es? Ich hatte die Rede als streng akademische Rede konzipiert und gehalten, ohne mir bewusst zu sein, dass man eine Papstrede nicht akademisch, sondern politisch liest. Durch die politische Betrachtung wurde nicht mehr das Feingewebe beachtet, sondern ein Text herausgerissen und zum Politikum, was er in sich nicht war. Er behandelte eine Situation aus einem alten Dialog, der übrigens nach wie vor, denke ich, von großem Interesse ist. Der Kaiser Manuel, der hier zitiert wurde, war zu jener Zeit schon Vasall des Ottomanischen Reiches. Er konnte also gar nicht die Muslime attackieren wollen. Aber er konnte im intellektuellen Dialog lebendige Fragen vorbringen. Allerdings ist die heutige politische Kommunikation derart, dass sie solche feinen Zusammenhänge nicht verstehen lässt. Dennoch hatten diese Ereignisse, nach all den schrecklichen Dingen, über die ich nur sehr traurig sein kann, letztlich positive Wirkungen. Bei meinem Besuch in der Türkei konnte ich zeigen, dass ich Ehrfurcht habe vor dem Islam, dass ich ihn als eine große religiöse Wirklichkeit anerkenne, mit der wir im Gespräch stehen müssen. Und so ist aus dieser Kontroverse ein wirklich intensiver Dialog gewachsen. Es wurde deutlich, dass der Islam im öffentlichen Dialog zwei Fragen klären muss, nämlich die Fragen seines Verhältnisses zur Gewalt und zur Vernunft. Dass nun diese beiden Fragen in den eigenen Reihen als klärungspflichtig und -bedürftig empfunden wurden und damit auch eine Innenreflexion unter den Gelehrten des Islam begann, die dann zu einer dialogischen Reflexion wurde, war ein wichtiger Ansatz. Die islamische Zeitung „Zaman“ sprach von der „Friedensbotschaft“ des Papstes; endlich sei der Dialog der Religionen wirklich in Gang gekommen. Auch deutsche Blätter wie „Die Zeit“ verneigten sich nach anfänglich barscher Kritik nun vor dem „Weisen im Morgenland“, der „in der islamischen Welt zur wichtigsten Autorität des Westens wird“. Wir sind damit nun jedenfalls an einem guten Punkt angekommen. Sie wissen ja, dass 138 islamische Gelehrte einen Brief geschrieben haben, mit einer ausgesprochenen Einladung zum Dialog und mit einer Interpretation des Islam, die ihn unmittelbar in das Gespräch mit dem Christentum führt. Ich hatte hierüber auch mit dem König von Saudi-Arabien ein sehr gutes Gespräch. Er will sich, wie auch andere islamische Staatsoberhäupter oder etwa auch die Könige der Golfstaaten, gemeinsam mit den Christen gegen den terroristischen Missbrauch des Islam stellen. Wir wissen, dass wir heute in einem gemeinsamen Ringen stehen. Gemeinsam ist uns, dass wir einerseits große religiöse Werte verteidigen – den Glauben an Gott und den Gottesgehorsam –, dass wir andererseits in der Moderne den richtigen Ort finden müssen. Damit befassen sich auch die Gespräche des Dialogrates. Hier geht es um Fragen wie: Was heißt Toleranz? Wie stehen Wahrheit und Toleranz zueinander? Damit hängt dann die Frage zusammen, ob zur Toleranz auch das Recht des Religionswechsels gehört. Das anzuerkennen fällt den islamischen Partnern schwer. Wer in der Wahrheit angelangt ist, heißt es hier, kann nicht mehr zurück. Jedenfalls sind wir in ein großräumiges und intensives Dialogverhältnis eingetreten, in dem wir näher zueinander kommen, einander besser verstehen lernen. Und dadurch vielleicht auch positiver einen gemeinsamen Beitrag in dieser schwierigen Stunde der Geschichte leisten können. Es ist noch nicht so lange her, da hielten es Päpste freilich noch für ihre Aufgabe, Europa vor einer Islamisierung zu schützen. Verfolgt der Vatikan hier eine komplett neue Politik? Nein. Die historischen Situationen wechseln. Denken wir nur an die Zeit, in der das Ottomanische Reich an den Grenzen Europas gerüttelt hat, Europa belagerte und schließlich vor den Toren Wiens stand. Oder denken wir an die Schlacht von Lepanto 1571. Hier ging es wirklich darum, ob die Identität Europas erhalten bleibt oder ob Europa zu einer Kolonie wird. In dieser Situation, in der es gar nicht nur um den Islam, sondern um die Ausbreitung der ottomanischen Macht ging, musste Europa zusammenstehen und seine Geschichte, seine Kultur, seinen Glauben verteidigen. Heute leben wir in einer völlig anderen Welt, in der die Fronten anders verlaufen. In der auf der einen Seite der radikale Säkularismus, auf der anderen Seite die Frage nach Gott steht, in ihrer ganzen Verschiedenheit. Natürlich muss es weiterhin die Identität der jeweiligen Religion geben. Da können wir uns nicht ineinander auflösen. Andererseits muss aber auch der Versuch unternommen werden, einander zu verstehen. In großen Teilen Schwarzafrikas besteht seit Langem ein tolerantes und gutes Miteinander zwischen Islam und Christentum. Wenn ich die Bischöfe aus diesen Ländern empfange, berichten sie, es sei einfach eine alte Gewohnheit, dass sie gegenseitig ihre Feste mitfeiern. Anderswo ist das Verhältnis noch immer geprägt durch Intoleranz und Aggression. Insofern sind die geschichtlichen Situationen auch heute noch sehr unterschiedlich. Wir müssen jedenfalls versuchen, einerseits das Große unseres Glaubens zu leben und lebendig darzustellen, andererseits das Erbe der anderen zu verstehen. Wichtig ist, das Gemeinsame zu finden und da, wo es geht, in dieser Welt einen gemeinsamen Dienst zu tun. Gleichzeitig ist nicht zu übersehen, dass in Ländern, wo der Islam Staat und Gesellschaft beherrscht, Menschenrechte mit Füßen getreten und Christen brutal unterdrückt werden. Für den anglikanischen Bischof Michael Nazir-Ali stellt der Islam die seit dem Kommunismus größte Bedrohung für den Westen dar, weil mit ihm eine umfassende politische und sozio-ökonomische Ideologie einhergehe. Der Präsident der islamischen Republik Iran, Mahmud Ahmadinedschad, hat erklärt, der Countdown für die Zerstörung Israels habe begonnen, bald werde Israel „von der Landkarte getilgt werden“. Ist die Vorstellung von einem Dialog mit dem Islam dann nicht auch ein wenig blauäugig oder sogar gefährlich? Es gibt sehr verschiedene Arten, wie der Islam gelebt wird, je nach seinen geschichtlichen Traditionen, von seiner Herkunft und den jeweiligen Machtverhältnissen her. In Schwarzafrika gibt es, wie gesagt, zumindest in großen Teilen eine Tradition des Miteinander, die sehr erfreulich ist. Wo auch Religionswechsel möglich ist und Kinder eines islamischen Vaters Christen werden können. Hier existiert eine Annäherung im Grundverständnis von Freiheit und Wahrheit, die die Intensität des Glaubens nicht trübt. Wo der Islam aber, sagen wir, monokulturell, allein herrscht, unangefochten in seinen Traditionen und seiner kulturellen und politischen Identität, sieht er sich leicht als Gegenposition zur westlichen Welt, gewissermaßen als der Verteidiger der Religion gegenüber dem Atheismus und dem Säkularismus. Das Wahrheitsbewusstsein kann dann so eng werden, dass es zur Intoleranz wird und damit auch ein Miteinander mit den Christen sehr schwer macht. Hier ist es wichtig, dass wir mit allen dialogwilligen islamischen Kräften intensiv in Verbindung bleiben, und dass dann Bewusstseinsveränderungen auch dort geschehen können, wo Islamismus Wahrheitsanpruch und Gewalt miteinander verknüpft. Die Vorlesung an der früheren Wirkungsstätte Joseph Ratzingers als Professor hatte das Thema: „Glaube, Vernunft und Universität. Erinnerungen und Reflexionen“. Die Textstelle, in der Benedikt XVI. die Aussage des spätmittelalterlichen byzantinischen Kaisers Manuel II. Palaiologos zitiert, ist im Anhang dieses Bandes wiedergegeben. 10 Verkündigung Ihre allererste Veröffentlichung, noch aus Ihrer Studentenzeit, war die Übersetzung eines Textes von Thomas von Aquin. Der Titel lautete: „Eröffnung über die Liebe“. Ihre Erstveröffentlichung als Papst, genau 60 Jahre später, ist eine Enzyklika über dasselbe Thema: „Deus caritas est – Gott ist die Liebe“. Die erste Enzyklika eines Papstes gilt ja immer auch als eine Art Notenschlüssel für sein Pontifikat. Was dieses studentische Büchlein angeht: Ich hatte auf Anregung von Alfred Läpple die „Quaestio disputata de caritate“ des heiligen Thomas von Aquin übersetzt, weil Martin Grabmann, der große Mittelalterforscher, gesagt hatte, die „Quaestiones“ sind unübersetzt, sie müssen übersetzt werden. Es ist dann aber nicht zur Veröffentlichung gekommen. Es war wahrscheinlich auch gar keine gute Übersetzung, ich war ja nicht einmal 20 Jahre alt … Auf diese Weise bin ich eigentlich durch Zufall an dieses Thema gekommen, aber es hat mich fasziniert. So hat mich in meinem Leben einerseits immer das Thema Christus als der lebendige, gegenwärtige Gott begleitet, der Gott, der uns durch Leid hindurch liebt und heilt, andererseits auch das Thema Liebe, das dann in der johanneischen Theologie zentral wird – in dem Bewusstsein, dass das der Schlüssel des Christentums ist, dass es von daher gelesen werden muss. So habe ich auch die erste Enzyklika von diesem Schlüssel her geschrieben. Die Sexualmoral der katholischen Kirche löst heftigen Widerspruch aus, wir werden darauf noch zu sprechen kommen. In „Gott ist die Liebe“ erläutert der Papst, zur „Menschlichkeit des Glaubens“ gehöre auch das „Ja“ des Menschen zu seiner Körperlichkeit, die von Gott geschaffen ist. Ist das ein Plädoyer für besseren Sex? Die Körperlichkeit umfasst natürlich weit mehr, als dass man sie nur über die Sexualität definieren könnte, aber diese ist ein wesentlicher Bestandteil. Wichtig ist, dass der Mensch Seele im Leib ist, dass er als Leib er selber ist und von daher den Leib positiv auffassen und die Sexualität als eine positive Gabe begreifen darf. Durch sie nimmt er selbst am Schöpfertum Gottes teil. Diese positive Auffassung zu finden und diesen Schatz zu hüten, der uns gegeben ist, das ist eine große Aufgabe. Es stimmt, dass in der Christenheit immer wieder auch Rigorismen eingerissen sind und die Tendenz zur Negativwertung, die sich in der Gnosis ausgebildet hatte, auch in die Kirche Eingang fand. Denken wir nur an den Jansenismus, mit dem es zu einer Verbiegung, zu einer Verängstlichung des Menschen kam. Heute ist zu erkennen, dass wir wieder zur eigentlich christlichen Haltung finden müssen, wie es sie in der Urchristenheit und in den großen Augenblicken der Christenheit gab: die Freude und das Ja zum Leib, das Ja zur Sexualität – gesehen als eine Gabe, zu der immer auch Disziplin und Verantwortung gehören. Denn wie immer gilt: Freiheit und Verantwortung gehören zusammen. Erst dann nämlich wächst auch die richtige Freude, ist das richtige Ja möglich. Deshalb ist es wichtig, dass wir das christliche Menschenbild, zu dem das Vatikanum II die entsprechenden Impulse gegeben hat, wieder neu in seiner Positivität, in seinem großen Ja entfalten. Wie in „Deus caritas est“ sprechen Sie auch in Ihrer nachfolgenden Enzyklika „Spe salvi“1 und in der Sozialenzyklika „Caritas in veritate“ 2, die die soziale Verantwortung von Politik und Wirtschaft anmahnt, immer wieder von einer „christlichen Existenz“. Selbst der Unkundige ahnt, dass das etwas ist, was mit der banalen Existenz des Wohlstandsbürgers nichts zu tun hat. Ist Christentum, wie es der Papst versteht, demnach eine eher provozierende, radikale Kraft, die das Gängige hinterfragt? Gerade auch, weil es Dinge sagt, die viele nicht einmal zu denken wagen? Ich würde über das, was früher gedacht worden ist, nicht urteilen wollen. Aber es muss wieder gegenwärtig werden, dass Menschsein etwas Großes ist, eine große Herausforderung. Die Banalität des Sich-einfach-treiben-Lassens wird ihm nicht gerecht. Genauso wenig wie die Einstellung, Bequemlichkeit sei die bessere Art zu leben, Wellness sei der einzige Inhalt des Glücks. Es muss wieder spürbar werden, dass wir höhere Ansprüche an das Menschsein stellen müssen, ja, dass sich gerade erst dadurch das größere Glück eröffnet; dass dieses Menschsein gleichsam eine Bergtour ist, bei der es schwierige Steigungen gibt. Aber erst durch sie gelangen wir in die Höhe und können dann die Schönheit des Seins überhaupt erst erfahren. Das zu betonen, liegt mir sehr am Herzen. Eine der meistdiskutierten Verkündigungen des bisherigen Pontifikats ist das Motu Proprio „Summorum Pontificum“ vom Juli 2007. Es soll den Zugang zur früheren lateinischen Messe erleichtern, die bis dahin nur mit Genehmigung des jeweiligen Ortsbischofs gefeiert werden durfte. In einem Begleitschreiben hatten Sie eigens betont, die erneuerte Liturgie in der Landessprache bleibe der ordentliche, die tridentinische Messe sei der außerordentliche Ritus. Es gehe dem Papst, so erklären Sie, nicht um oft kleinliche Fragen nach dieser oder jener Form. Grundlegend sei der kosmische Charakter der Liturgie sowie der große Zusammenhang der christlichen Liturgie mit dem alttestamentlichen Erbe. Was ist damit gemeint? Das ist ein ganz großes Kapitel. Es geht darum, dass man die Liturgie nicht als Selbstdarstellung der Gemeinde begeht, wo man sagt, es sei wichtig, dass jeder sich selbst einbringt, und wo am Schluss dann wirklich nur noch das „Ich selbst“ wichtig ist. Es kommt vielmehr darauf an, dass wir eingehen in etwas viel Größeres. Dass wir gewissermaßen aus uns selbst heraus und ins Weite gehen können. Deshalb ist es ja auch so wichtig, dass Liturgie nicht irgendwie selbstgebastelt wird. Liturgie ist in Wahrheit ein Vorgang, durch den man sich hineinführen lässt in das große Glauben und Beten der Kirche. Aus diesem Grund haben die frühen Christen nach Osten, zur aufgehenden Sonne hin gebetet, dem Sinnbild des wiederkehrenden Christus. Sie wollten damit zeigen, dass die ganze Welt auf Christus zugeht und Er diese Welt ganz umfasst. Dieser Zusammenhang mit Himmel und Erde ist sehr wichtig. Die alten Kirchen waren nicht von ungefähr so gebaut, dass die Sonne in einem ganz bestimmten Augenblick ihr Licht in das Gotteshaus wirft. Gerade heute, da uns die Bedeutung der Wechselwirkungen zwischen Erde und Weltall wieder bewusst wird, sollte man auch den kosmischen Charakter der Liturgie neu erkennen. Und ebenso den geschichtlichen. Dass diese nicht irgendwann irgendjemand einfach so erfunden hat, sondern dass sie seit Abraham organisch gewachsen ist. Solche Elemente aus frühester Zeit sind in der Liturgie enthalten. Was das Konkrete angeht, so ist die erneuerte Liturgie des Zweiten Vatikanums die gültige Form, wie die Kirche heute Liturgie feiert. Ich habe die vorangegangene Form vor allem deshalb besser zugänglich machen wollen, damit der innere Zusammenhang der Kirchengeschichte erhalten bleibt. Wir können nicht sagen: Vorher war alles verkehrt, jetzt ist alles richtig; denn in einer Gemeinschaft, in der das Beten und die Eucharistie das Allerwichtigste sind, kann nicht etwas ganz verkehrt sein, was früher das Allerheiligste war. Es ging um die innere Aussöhnung mit der eigenen Vergangenheit, die innere Kontinuität des Glaubens und Betens in der Kirche. Andererseits provozierte die Entscheidung einen Streit um die im alten Ritus enthaltene Karfreitagsfürbitte zur Bekehrung der Juden. Der New Yorker Rabbiner und Historiker Jacob Neusner verteidigte diese Bitte mit dem Hinweis, sie liege „in der Logik des Monotheismus“. Auch gläubige Juden würden doch jeden Tag drei Mal darum beten, dass eines Tages alle Nichtjuden den Namen JHWHs anriefen. Sie haben schließlich den Text im Februar 2008 durch eine Neuformulierung ersetzen lassen. Konnten Sie die Argumente der Kritiker nachvollziehen? Zunächst einmal bin ich Herrn Neusner sehr dankbar für das, was er gesagt hat, weil es wirklich hilft. Zweitens: Diese Bitte betrifft nicht die allgemeine Liturgie, sondern nur den kleinen Kreis derer, die das alte Messbuch benutzen. Sie hat also nichts an der Großliturgie geändert. Aber dort, in der alten Liturgie, schien mir an diesem Punkt eine Änderung nötig. Die Formulierung war dort so, dass sie für die Juden wirklich verletzend war und zudem die große innere Einheit zwischen Altem und Neuem Testament nicht positiv ausgedrückt hat. Deswegen glaubte ich, dass bei der alten Liturgie an dieser Stelle eine Änderung nötig war, insbesondere, wie gesagt, mit Rücksicht auf unsere Beziehung zu den jüdischen Freunden. Ich habe sie so abgeändert, dass darin unser Glaube enthalten ist, dass Christus der Heiland für alle ist. Dass es nicht zwei Heilswege gibt, dass also Christus auch der Retter der Juden, nicht bloß der Heiden ist. Aber auch dahingehend, dass nun nicht unmittelbar für die Bekehrung der Juden im missionarischen Sinne gebetet wird, sondern dass der Herr die geschichtliche Stunde herbeiführen möge, in der wir alle miteinander vereint sein werden. Deshalb sind die Argumente, die hier von einer Reihe von Theologen polemisch gegen mich hingeworfen wurden, unbedacht; sie werden der Sache nicht gerecht. Ihr weitgehend unbeachtet gebliebenes Motu Proprio „Omnium in mentem“ vom Dezember 2009 ändert das Kirchenrecht zu Diakonat und Ehe. Für die Gültigkeit einer Ehe ist fortan ohne Belang, ob eine katholisch getaufte Person aus der Kirche ausgetreten ist, etwa aus steuerlichen Gründen. Die Änderung, heißt es, strebe eine Gleichbehandlung aller Katholiken an. Aber wird damit nicht auch bereits klargestellt, dass jemand aus steuerlichen Gründen einen Kirchenaustritt erklären kann – und dennoch Mitglied der Kirche bleibt? Das ist ein Problem, das ich hier nicht lösen kann. Das ist wirklich ein großer Disput, der zwischen Deutschland und Rom geführt wird: Wie weit ist die Zugehörigkeit zur Körperschaft des öffentlichen Rechts, die die Kirchensteuer einzieht, mit der Zugehörigkeit zum geheimnisvollen Leib Christi, den die Kirche darstellt, identisch? Natürlich muss die Kirche auch konkret verfasst sein. Sie braucht auch Leiblichkeit. Sie braucht äußere Rechtsformen. Und natürlich gehört zum Christsein auch, dass man etwas für die eigene Gemeinschaft tut. Das deutsche System ist ein ganz besonderes, um das jetzt ein sehr wichtiger und, wie ich glaube, auch nützlicher Disput zwischen den Organen des Heiligen Stuhls und der Deutschen Bischofskonferenz stattfindet. Da möchte ich nicht vorgreifen. Überraschung hat die Entscheidung ausgelöst, Pius XII. den „heroischen Tugendgrad“ zu verleihen, eine Voraussetzung für die Seligsprechung, wobei hiermit kein historisches oder politisches Urteil verbunden ist, sondern eine Wertung des seelsorgerischen Wirkens. Das Bild von Eugenio Pacelli, der als Pius XII. von 1939 bis 1958 regierte, wurde in der Öffentlichkeit insbesondere von dem Theaterautor Rolf Hochhuth geprägt, der einen skrupellosen Machttaktiker zeichnet, den das Schicksal der Juden kalt lässt. Mit dem tatsächlichen Pius XII., so wissen die Forscher inzwischen, hat diese Figur kaum etwas gemeinsam. Insgesamt seien unter Pius XII., so der Historiker Karl-Joseph Hummel, mit katholischer Hilfe bis zu 150.000 Juden vor den Vernichtungslagern der Nazis gerettet worden. Der jüdische Philosoph Bernard-Henri Lévy erklärte, die 1937 veröffentlichte Enzyklika „Mit brennender Sorge“, an der Pacelli als Kardinalstaatssekretär mitwirkte, sei bis heute eines der „entschlossensten und wortgewaltigsten Manifeste gegen die Nazis“. Als Papst habe Pius XII. dafür gesorgt, „dass den verfolgten römischen Juden die Klöster offen standen“. Golda Meir, die spätere israelische Ministerpräsidentin, hatte 1958 erklärt: „Als in dem Jahrzehnt nationalsozialistischen Terrors unser Volk ein schreckliches Martyrium überkam, hat sich die Stimme des Papstes für die Opfer erhoben.“ Aus jüdischen Gemeinden kamen dennoch erhebliche Vorbehalte. Hätte man erst die Öffnung aller Vatikanarchive abwarten sollen? An sich war die Anerkennung des heroischen Tugendgrades, die, wie Sie schon sagten, nicht seine politische und historische Leistung als solche bewertet, schon seit zwei Jahren vorbereitet. Ich habe zunächst die Unterschrift nicht gegeben, sondern eine Durchsicht der nicht veröffentlichten Archivbestände angeordnet, um mir wirklich Gewissheit zu verschaffen. Natürlich konnten die mehrere hunderttausend Papiere nicht im streng wissenschaftlichen Sinn ausgewertet werden. Aber man hat sich noch einmal einen Eindruck verschaffen und sehen können, dass das Positive, das wir wissen, sich dort bestätigt, und das Negative, das vorgebracht wird, sich nicht bestätigt. Sie haben selber darauf hingewiesen, dass Pius XII. Tausenden von Juden das Leben gerettet hat, etwa indem er die römischen Konvente und die Klausuren öffnen ließ – was nur der Papst selbst tun kann – und sie als extraterritorial erklärte, was rechtlich auch nicht ganz abgesichert war, von den Deutschen dann aber doch geduldet wurde. Es ist ganz klar: In dem Augenblick, in dem er einen öffentlichen Protest vorgebracht hätte, hätte man die Extraterritorialität nicht mehr respektiert und wären ganz bestimmt die Tausende, die in den römischen Klöstern in Sicherheit gebracht waren, deportiert worden. Insofern ging es einfach um viele Menschenleben, die nur auf diese Weise gerettet werden konnten. Erst kürzlich kam ans Licht, dass Pacelli schon 1938 als Staatssekretär an Bischöfe in aller Welt geschrieben hatte, sie sollten sich darum bemühen, dass den Juden, die aus Deutschland auswandern, großzügig Visa gewährt werden. Er hat seinerseits alles getan, um Menschen zu retten. Natürlich kann man immer wieder fragen: „Warum hat er nicht deutlicher protestiert?“ Ich glaube, dass er gesehen hat, welche Folgen ein offener Protest haben würde. Er hat darunter, das wissen wir, persönlich sehr gelitten. Er wusste, er müsste eigentlich sprechen, und doch hat es ihm die Situation verboten. Jetzt gibt es neue gescheite Leute, die sagen, er hat zwar viele Menschen gerettet, aber er hatte altmodische Auffassungen über die Juden, er war nicht auf der Höhe des Zweiten Vatikanums. Das ist aber nicht die Frage. Entscheidend ist, was er getan hat und zu tun versucht hat, und da muss man, glaube ich, wirklich erkennen, dass er einer der großen Gerechten war, der so viele Juden gerettet hat wie kein anderer. „Auf Hoffnung hin gerettet“, November 2007. „Die Liebe in der Wahrheit“, Juni 2009. 11 Pastorale Reisen Der Papst ist vielleicht nicht der mächtigste Mann der Welt, aber er erreicht mit Veranstaltungen rund um den Globus Millionen von Menschen, mehr als jeder Popstar. Sie galten früher nicht unbedingt als Volkstribun. Gibt es Lampenfieber? Ich bin natürlich manchmal besorgt und frage mich, ob ich das Ganze auch rein physisch durchstehe. Die Reisen stellen doch immer große Ansprüche an mich. Lampenfieber habe ich eigentlich nicht, denn alles ist gut vorbereitet. Ich weiß dann, dass ich jetzt nicht für mich selber spreche, sondern einfach für den Herrn da bin – und mir keine Gedanken machen muss, ob ich gut aussehe oder gut ankomme und Ähnliches. Ich tue das, was mir aufgetragen ist, in dem Bewusstsein, dass es für einen Anderen geschieht und dieser Andere auch für mich einsteht. In dem Sinn verlaufen diese Reisen dann ohne innere Furcht. Ihr Vorgänger galt schon auch als ein, sagen wir mal, Mister Bombastic, der alleine durch seine physische Präsenz, durch Stimme und Gestik eine große Medienresonanz und Wirkung erzeugte. Nun haben Sie nicht unbedingt dieselbe Statur und nicht dieselbe Stimme. War das ein Problem für Sie? Ich habe mir einfach gesagt: Ich bin der, der ich bin. Ich versuche nicht, ein anderer zu sein. Was ich geben kann, gebe ich, und was ich nicht geben kann, versuche ich auch nicht zu geben. Ich versuche nicht, etwas aus mir zu machen, was ich nicht bin. Ich bin nun gewählt worden – daran sind auch die Kardinäle schuld –, und ich tue das, was ich kann. Der Weltjugendtag im August 2005 in Köln mit 1,1 Millionen Teilnehmern und später auch der Weltjugendtag in Sydney brachten ungeahnte Qualitäten ans Licht. „Hier auf dem Rhein“, beobachtete das italienische Linksblatt „La Repubblica“, zerbreche selbst in den Augen seiner misstrauischen Landsleute die Rüstung des Glaubenswächters – zugunsten eines Hirten, der Kirche als „Ort der Zärtlichkeit Gottes“ beschreibt. Waren Sie von sich selbst überrascht darüber, wie gut Sie mit den jungen Menschen umgehen können? Es hat mich jedenfalls gefreut, dass ein ganz spontaner Kontakt entstanden ist, und in der Tat sind diese Jugendtage zu einem echten Geschenk geworden. Wenn ich denke, wie viele junge Menschen von hier einen neuen Ausgangspunkt finden und dann geistlich davon leben, wie viele neue Initiativen des Glaubens entstehen, welche Freude bleibt, aber welche Sammlung es gerade auch unmittelbar auf dem Weltjugendtag gibt, muss ich sagen: Hier geschieht etwas, was gar nicht wir selbst machen. In Australien hatte man mit großen Sicherheitsproblemen, mit Schwierigkeiten, mit Zusammenstößen gerechnet, mit allem, was bei Massenkundgebungen vorkommt. Man war sehr beunruhigt und kritisch. Am Schluss war die Polizei begeistert, waren alle Leute froh, weil es keinerlei Störungen gegeben hatte. Uns hat ganz einfach die gemeinsame Freude des Glaubens getragen, und es wurde möglich, dass Hunderttausende schweigend vor dem Sakrament verweilen und dabei eins werden. Dieses Gesammelte und Fröhliche, die innere Heiterkeit und echte Begegnung, das Fehlen des Kriminellen – hier geschieht wirklich etwas ganz Erstaunliches, etwas sehr anderes als bei vergleichbaren Massenveranstaltungen. Und von Sydney gehen immer noch Wirkungen aus, wie etwa Priesterberufungen. Mit den Weltjugendtagen ist, glaube ich, etwas gefunden worden, das allen hilft. Mit bald 20 Auslandsbesuchen, ob in Polen, in Tschechien, Spanien, Österreich, Australien, Nord- und Südamerika, Afrika, Portugal, Zypern, Israel, England, sind Sie nun doch auch ein Reisepapst geworden. Nehmen wir einige Beispiele heraus. In Brasilien besuchten Sie soziale Einrichtungen des Landes und nahmen an dem historischen Treffen von 176 Kardinälen und Bischöfen aus Lateinamerika teil. Der Glaube an Gott habe in der Begegnung mit den Urvölkern diese Länder mehr als fünf Jahrhunderte hindurch beseelt und lebendig gemacht, erklärten Sie. Heute jedoch stehe die katholische Identität seiner Bevölkerung auf dem Spiel. In den vergangenen 25 Jahren ging eine große Veränderung der Religionsgeografie vor sich. In Ländern und Landesteilen, die zuvor noch bis zu 90 Prozent oder mehr Katholiken hatten, ist der Anteil auf 60 Prozent gesunken. Es ist eine doppelte Veränderung: zum einen sind es die evangelikalen Sekten, die die Geografie stark umpflügen – die ihrerseits wieder sehr instabil sind und auch keine dauerhaften Zugehörigkeiten schaffen –, auf der anderen Seite ist es der Säkularismus, der durch die Massenmedien starken Einfluss gewinnt und bewusstseinsverändernd wirkt. Insofern existiert da wirklich eine kulturelle Krise, die tief reicht. Umso wichtiger ist es, dass sich der katholische Glaube neu und lebendig darstellt und sich als Kraft der Einheit, der Solidarität und der Offenheit vom Ewigen für das Zeitliche wieder neu zu Wort meldet. Bei Ihrer Reise in die USA stand insbesondere die Situation nach den Missbrauchsfällen im Vordergrund. Welchen Eindruck brachten Sie von diesem Besuch mit? Es hat, glaube ich, auch die Nichtkatholiken überrascht, dass der Besuch nichts Provozierendes an sich hatte, sondern die positiven Kräfte des Glaubens erweckt und alle berührt hat, die da waren. Wohin immer der Papst kam, es waren unzählige Menschen da, und es herrschte eine ganz unglaubliche katholische Freudigkeit. Ob bei den großartigen Gottesdiensten – in Washington mit eher moderner Musik, in New York typisch klassisch –, oder auch in der katholischen Universität, überall gab es freudige Teilnahme, ein Bewusstsein der Nähe, des Miteinander, das mich sehr berührt hat. Ich habe dann auch mit Missbrauchsopfern gesprochen und viele Einrichtungen der Jugendarbeit kennengelernt. Hat die katholische Kirche in den USA die Krise schon bewältigt? Das wäre vielleicht zu viel gesagt, aber sie weiß zum einen um ihre Gefährdung, ihre Not und die Sünde in ihr. Das ist sehr wichtig. Zudem ist sie in einem großen inneren Aufbruch, um all das zu überwinden und in unserer Zeit die katholische Identität neu zu leben und zu realisieren. Spanien scheinen Sie ganz besonders zu lieben. Sie haben das Land schon mehrfach besucht und werden auch zum Weltjugendtag 2011 wieder dort sein. Spanien ist natürlich eines der großen katholischen Länder, das der Kirche große Heilige und große Impulse geschenkt und zudem Mittel- und Südamerika geprägt hat. Spaniens Geschichte, aber gerade auch seiner Gegenwart zu begegnen, ist immer aufregend. Es ist ein Land dramatischer Gegensätze. Denken wir an den Gegensatz zwischen der Republik der 30er Jahre und Franco; oder auch an das derzeitige dramatische Ringen zwischen radikaler Säkularität und entschiedenem Glauben. Es ist ein Land, das nach wie vor in einer großen geschichtlichen Bewegung steht, noch dazu mit einer Vielzahl von Kulturen, die einander begegnen, etwa von Basken und Katalanen. Spanien ist immer eines der großen, der schöpferischen katholischen Länder gewesen, das ich insbesondere am Weltjugendtag in Madrid – so Gott will, wenn ich dann noch lebe – wieder neu berühren werde. Heuer sind zwei kleine Besuche vorgesehen: beim heiligen Jakobus in Santiago de Compostela und in der berühmten Gaudi-Kathedrale der Heiligen Familie in Barcelona. Nirgendwo versammelt der Papst so viele Menschen um sich wie hier; erstaunlich angesichts der Probleme, die die katholische Kirche eben auch in Spanien hat, auch aus der vernachlässigten Aufarbeitung der Franco-Diktatur. Es ist eben auch eine Vitalität des Glaubens vorhanden, die offenbar schon in der DNA der Spanier verankert ist. Frankreich. Ebenfalls ein Land mit einer großen katholischen Vergangenheit, mit bedeutenden Ordensgründungen und der einzigartigen Wallfahrtsstätte von Lourdes, die Sie besuchten. Aber auch ein Land mit einem weit fortgeschrittenen Laizismus. Vor meinem Besuch hatte man gesagt, ich würde in ein weitgehend atheistisches Land reisen und dort eine ziemlich kühle Luft vorfinden. Das Gegenteil war der Fall. Der Gottesdienst in Paris war überwältigend. Es waren zigtausende von Menschen in der Esplanade vor dem Invalidendom versammelt – in einer Intensität des Betens und des Glaubens, die mich berührt hat. Unvergesslich bleibt natürlich die Vesper in Notre-Dame, wo dieser herrliche Raum einfach mitbetet und die Musik großartig war. Hier hat sich das Licht und der Glanz großer französischer katholischer Kultur gezeigt. Gerne denke ich an die Begegnung mit den Akademikern im Institut de France und im Collège des Bernardins, wo ich eine Vorlesung hielt, der auch das intellektuelle Frankreich aufmerksam folgte, das den Papst als irgendwie dazugehörig anerkannte. Lourdes ist natürlich ein ganz besonderer Ort, wo alles voller Glauben, voller Gebete ist und die Mutter Gottes gleichsam spürbar auch immerfort da ist und die Menschen anrührt und bewegt. Hier war die Spendung der Krankensalbung an zum Teil bereits dem Tod geweihte Menschen in einer Atmosphäre der Demut und des stillen Betens besonders eindrücklich. Es war für mich sehr wichtig zu sehen, dass im sogenannten laikalen Frankreich nach wie vor auch eine ungeheure Kraft des Glaubens da ist. Ausgerechnet in Deutschland steht ein offizieller Besuch des deutschen Papstes noch immer aus, eigentlich eine unerhörte Situation. Liegt das an einer Verstimmung gegenüber der deutschen Regierung? Oder an einem Missmut gegenüber Gehässigkeit und den spießigen Anti-Rom-Affekten, die dem Papst in der öffentlichen Debatte so häufig entgegenschlagen? Ich habe zwar noch keinen offiziellen Deutschlandbesuch gemacht, aber ich war zweimal in Deutschland. Einmal in Köln, wo es auch zu einer Begegnung mit der Regierung kam, und einmal in Bayern, das ja schließlich auch zu Deutschland gehört. Aber es ist richtig, dass am Ende auch die Hauptstadt nicht ausgelassen werden kann. Wenn mir der Herr noch die Kraft schenkt, möchte ich gerne noch einmal Deutschland besuchen. Millionen von Menschen werden sich freuen, gleichzeitig aber auch antworten: Es ist spät, wo doch die Herde gerade in der Heimat des Papstes so bedrängt ist und dringend den Beistand des Hirten bräuchte. Ja, die Herde ist bedrängt, und wenn ich selber kommen kann, will ich es gerne tun. In der Zwischenzeit bin ich ja auch mit den Hirten und mit so vielen anderen Menschen in Deutschland in lebendigem Kontakt, dass, sagen wir, eine ständige innere Gegenwart und so eine ganz spezifische Nähe gegeben ist. Mit Ihrer Afrika-Reise im März 2009 geriet erneut die Aidspolitik des Vatikans ins Visier der Medien. 25 Prozent aller Aidskranken weltweit werden heute in katholischen Einrichtungen behandelt. In einigen Ländern, wie etwa Lesotho, sind es weit über 40 Prozent. Sie erklärten in Afrika, die traditionelle Lehre der Kirche habe sich als einzig sicherer Weg erwiesen, die Verbreitung von HIV aufzuhalten. Kritiker, auch aus den Reihen der Kirche, halten dagegen, es sei Wahnsinn, einer aidsgefährdeten Bevölkerung die Benutzung von Kondomen zu verbieten. Die Afrika-Reise ist publizistisch völlig verdrängt worden durch einen einzigen Satz. Man hatte mich gefragt, warum die katholische Kirche in Sachen Aids eine unrealistische und wirkungslose Position einnehme. Daraufhin fühlte ich mich nun wirklich herausgefordert, denn sie tut mehr als alle anderen. Und das behaupte ich auch weiterhin. Weil sie als einzige Institution ganz nah und ganz konkret bei den Menschen ist, präventiv, erziehend, helfend, ratend, begleitend. Weil sie so viele Aidskranke und insbesondere an Aids erkrankte Kinder behandelt wie niemand sonst. Ich konnte eine dieser Stationen besuchen und mit den Kranken sprechen. Das war die eigentliche Antwort: Die Kirche tut mehr als die anderen, weil sie nicht nur von der Tribüne der Zeitung aus redet, sondern den Schwestern, den Brüdern vor Ort hilft. Ich hatte dabei nicht zum Kondomproblem generell Stellung genommen, sondern, was dann zum großen Ärgernis wurde, nur gesagt: Man kann das Problem nicht mit der Verteilung von Kondomen lösen. Es muss viel mehr geschehen. Wir müssen nahe bei den Menschen sein, sie führen, ihnen helfen; und dies sowohl vor wie nach einer Erkrankung.1 Tatsächlich ist es ja so, dass wo immer sie jemand haben will, Kondome auch zur Verfügung stehen. Aber dies allein löst eben die Frage nicht. Es muss mehr geschehen. Inzwischen hat sich gerade auch im säkularen Bereich die sogenannte ABC-Theorie entwickelt, die für „Abstinence – Be faithful – Condom“ steht [Enthaltsamkeit – Treue – Kondom], wobei das Kondom nur als Ausweichpunkt gemeint ist, wenn die beiden anderen Punkte nicht greifen. Das heißt, die bloße Fixierung auf das Kondom bedeutet eine Banalisierung der Sexualität, und die ist ja gerade die gefährliche Quelle dafür, dass so viele Menschen in der Sexualität nicht mehr den Ausdruck ihrer Liebe finden, sondern nur noch eine Art von Droge, die sie sich selbst verabreichen. Deshalb ist auch der Kampf gegen die Banalisierung der Sexualität ein Teil des Ringens darum, dass Sexualität positiv gewertet wird und ihre positive Wirkung im Ganzen des Menschseins entfalten kann. Es mag begründete Einzelfälle geben, etwa wenn ein Prostituierter ein Kondom verwendet, wo dies ein erster Schritt zu einer Moralisierung sein kann, ein erstes Stück Verantwortung, um wieder ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass nicht alles gestattet ist und man nicht alles tun kann, was man will. Aber es ist nicht die eigentliche Art, dem Übel der HIV-Infektion beizukommen. Diese muss wirklich in der Vermenschlichung der Sexualität liegen. Heißt das nun, dass die katholische Kirche gar nicht grundsätzlich gegen die Verwendung von Kondomen ist? Sie sieht sie natürlich nicht als wirkliche und moralische Lösung an. Im einen oder anderen Fall kann es in der Absicht, Ansteckungsgefahr zu verringern, jedoch ein erster Schritt sein auf dem Weg hin zu einer anders gelebten, menschlicheren Sexualität. Der vollständige Text ist im Anhang dieses Bandes dokumentiert. 12 Der Fall Williamson Vier Jahre lang hatte der Papst, salopp gesagt, einen guten Job gemacht. Die Gegner waren regelrecht verstummt. Im Januar 2009 kommt es freilich zu einer Wende, und mit einem Male sind auch die alten bissigen Stimmen wieder da. Papst Benedikt sei ein eiskalter Technokrat, hieß es nun wieder in Teilen der Presse. Auslöser ist, wir haben das anfangs schon angeschnitten, die Rücknahme der Exkommunikation gegenüber vier Bischöfen der katholischen Piusbruderschaft, die sich unter dem französischen Erzbischof Lefebvre von Rom getrennt hatte. Die Bruderschaft umfasst zu diesem Zeitpunkt nach eigenen Angaben rund 600.000 Gläubige, fast 500 Priester, über 200 Seminaristen, 86 Schulen und zwei Universitäts-Institute. Vorab: Mussten Sie nicht auch davon ausgehen, dass Sie für diesen Schritt in der Öffentlichkeit alles andere als Zustimmung zu erwarten hatten? Der Nutzen konnte doch nur eher gering sein, der Schaden aber erheblich. Das ist richtig. Ich habe bereits erläutert, dass der Schritt weitgehend parallel zu dem ist, was wir in China tun. Wenn Bischöfe, die in der Exkommunikation sind, weil sie sich gegen den Primat verfehlt haben, dann den Primat anerkennen, werden sie gerechterweise von der Exkommunikation befreit. Ihre Exkommunikation hatte also nicht, wie ich schon sagte, mit dem Zweiten Vatikanum zu tun, sondern war wegen eines Verstoßes gegen den Primat ausgesprochen worden. Nun hatten sie in einem Brief ihr Ja zum Primat erklärt, und insofern war die rechtliche Folge ganz klar. Übrigens hatte schon unter Johannes Paul II. eine Versammlung aller Dikasterienhäupter, also aller, die einer päpstlichen Behörde vorstehen, beschlossen, die Exkommunikation zurückzunehmen, falls ein solcher Brief kommt. Von unserer Seite wurde leider schlechte Öffentlichkeitsarbeit geleistet, so dass der wirkliche, rechtliche Inhalt und die Grenzen dieses Vorganges gar nicht deutlich wurden. Zu allem Übel kam dann auch noch der Super-GAU mit Williamson hinzu, den wir leider nicht vorhergesehen hatten, was ein besonders betrüblicher Umstand ist. Hätten Sie mit dem Wissen, dass sich unter den Bischöfen jemand befindet, der die Gaskammern der Nazis leugnet, die Exkommunikation unterschrieben? Nein. Dann hätte zunächst der Fall Williamson abgetrennt werden müssen. Aber leider hat niemand bei uns im Internet nachgeschaut und wahrgenommen, um wen es sich hier handelt. Müsste man, bevor man eine Exkommunikation zurücknimmt, nicht überhaupt erst einmal die betreffenden Personen und ihren Lebenswandel unter die Lupe nehmen – erst recht, wenn es sich um eine Gemeinschaft handelt, die sich in ihrer Isolation sowohl theologisch als auch politisch fragwürdig entwickelt hatte? Richtig ist, dass Williamson insofern eine besondere Figur ist, als er ja nie katholisch im eigentlichen Sinne war. Er war Anglikaner und ist von den Anglikanern direkt zu Lefebvre übergegangen. Das heißt, er hat nie in der Großkirche, nie in der Gemeinschaft mit dem Papst gelebt. Unsere Instanzen, die dafür zuständig sind, erklärten, alle vier Betroffenen seien uneingeschränkt willens, den Primat anzuerkennen. Aber im Nachhinein ist man natürlich immer klüger. Heute drängt sich der Verdacht auf, dass es sich bei dem Vorgang um ein Komplott gehandelt haben könnte, mit dem Ziel, dem Papst größtmöglichen Schaden zuzufügen. Allein der Zeitplan lässt eine gezielte Aktion vermuten.1 Der Schaden jedenfalls ist gewaltig. Über Wochen hinweg hagelt es negative Schlagzeilen. Dass es überhaupt zu dieser Affäre kommen konnte, lag allerdings gerade auch daran, dass die tatsächlichen Zusammenhänge verschwiegen wurden. Die Pressestelle des Vatikans mag nicht optimal gearbeitet haben, aber noch schlechter arbeiteten die Journalisten der großen bürgerlichen Medien. Ein, zwei Nachfragen hätten genügt, die Sache aufzuklären. Aber man wollte sich die Skandal-Schlagzeilen nicht selbst kaputtmachen. Im betreffenden Dekret nämlich wurde klar dargestellt, dass der Papst lediglich entschieden habe, die kirchenrechtliche Situation der Bischöfe „neu zu bedenken“. Klar war: Die vier Bischöfe bleiben kirchenrechtlich weiterhin suspendiert. Es ist ihnen untersagt, ihr Amt auszuüben. Der Schritt bedeutet keine Versöhnung und erst recht keine Rehabilitierung. Dennoch veröffentlicht die „Süddeutsche Zeitung“ die vernichtende Schlagzeile „Papst rehabilitiert Holocaust-Leugner“. Dies sei ein beschämendes Signal, ja ein Sündenfall. Wie war es möglich, dass Ihr Gestus überhaupt als Absage an die Versöhnung von Christen und Juden verstanden werden konnte? Es gibt hier offenbar, wie ich auch in meinem nachträglichen Brief geschrieben habe, eine sprungbereite Feindseligkeit, die auf solche Dinge wartet, um dann zielsicher loszuschlagen. Auf unserer Seite war es ein Fehler, dass man diese Sache nicht genauer studiert und vorbereitet hat. Auf der anderen Seite war aber eben doch, sagen wir, die Bereitschaft zur Aggression da, die dann nur auf ihr Opfer gewartet hat. Von allen maßgeblichen Stellen des Vatikans wurde sofort klargestellt, dass Holocaust-Leugner in der katholischen Kirche nichts zu suchen haben. Gerade einmal zwei Monate zuvor, am 9. November, hatten Sie in Rom des 70. Jahrestages der „Reichskristallnacht“ gedacht. Sie riefen dabei zu „tiefer Solidarität mit der jüdischen Welt“ und zum Gebet für die Opfer auf. Es sei die Pflicht jedes Einzelnen, auf allen Ebenen gegen jede Form des Antisemitismus und der Diskriminierung einzutreten. Bei der Generalaudienz am 28. Januar 2009, der ersten Gelegenheit, persönlich und öffentlich Stellung zum Fall Williamson zu nehmen, gab der Papst eine Erklärung ab, in der er seine „volle und unbestreitbare Solidarität mit unseren Brüdern, den Trägern des Ersten Bundes“, zum Ausdruck brachte. Die Shoa sei „für alle eine Mahnung gegen das Vergessen, gegen die Leugnung oder die Reduzierung des Holocaust.“ Der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland behauptete dennoch, der Papst habe einen Holocaust-Leugner „salonfähig“ machen wollen. Ein jüdischer Publizist sprach gar von der Rehabilitierung „aktiver Judenhasser“. Er nannte den Papst einen „Heuchler“. Die Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland erklärte den Dialog mit der katholischen Kirche für ab sofort beendet. Zeigt die Affäre damit nicht auch, auf welch dünnem Eis sich das Verhältnis zu den Juden noch immer bewegt? Zu erkennen ist jedenfalls, dass es immer noch große Ängste und Spannungen gibt und der Dialog leicht Schaden nehmen kann und gefährdet ist. Im großen weltweiten Judentum gab es jedoch sehr viele Menschen, die mir sofort bezeugt haben, dass ich niemals einen Holocaust-Leugner hoffähig machen würde. Das sind Menschen, die mich kennen. Insofern stand da ein Zusammenbruch des Dialogs nicht zur Debatte. Diese Gefahr bestand am ehesten in Deutschland, wo unter den deutschen Juden offenbar eine besonders starke Sensibilität und auch eine, sagen wir, Verletzlichkeit gegenüber dem Papst besteht. Hier hat sich offenbar auch das generelle Papstbild der Deutschen etwas auf das Judentum übertragen, so dass sich in diesen Wortmeldungen nicht nur die jüdische, sondern auch die deutsche Situation spiegelt. Wie gesagt, es war natürlich ein kritischer Augenblick, der zeigt, wie wachsam wir sein müssen, wie gefährdet die Situation sein kann. Zugleich hatte im weltweiten Judentum aber auch immer das Vertrauen Bestand. Angela Merkel, die protestantische Kanzlerin jenes Landes, das für den Holocaust verantwortlich ist, forderte vom Vatikan, sich eindeutig gegen den Antisemitismus zu bekennen; die bisherigen Erklärungen reichten nicht aus. Ich will das nicht noch einmal aufrollen. Anscheinend war sie über das, was die katholische Kirche inzwischen gesagt und getan hatte, nur unvollständig unterrichtet. Besonders betrübt habe Sie, merken Sie später an, „dass auch Katholiken, die es eigentlich besser wissen konnten, … auf mich einschlagen zu müssen glaubten.“ Dass es im katholischen Deutschland eine beträchtliche Schicht gibt, die sozusagen darauf wartet, auf den Papst einschlagen zu können, ist eine Tatsache und gehört zu der Gestalt des Katholizismus in unserer Zeit. Womit wir uns ernstlich beschäftigen müssen, worum wir ringen müssen, ist, dass da wieder ein Grundeinverständnis entsteht. Für den Mai 2009, also unmittelbar noch im Spannungsfeld der Affäre Williamson, war Ihre Reise ins Heilige Land angesetzt, die nun mit Hochspannung erwartet wurde. Diese Reise hatte, ähnlich wie Ihr Türkei-Besuch, der unmittelbar auf die Auseinandersetzungen um die „Regensburger Rede“ stattfand, eine erstaunliche Wendung zur Folge. Die Beziehungen zwischen dem Vatikan und Israel, erklärte der israelische Botschafter beim Heiligen Stuhl, Mordechay Lewy, hätten sich deutlich verbessert. Er zitierte dabei ein Wort aus dem biblischen Buch der Richter: „Und aus dem Bitteren kam das Süße.“ Ich hatte ja schon gesagt, dass die Spannung mit Israel nicht dieselbe war, wie sie in Deutschland bestand, sondern dass da immer ein gegenseitiges Vertrauen vorhanden war. Ein Wissen darum, dass der Vatikan für Israel, für das Judentum dieser Welt einsteht, dass wir die Juden als unsere Väter und Brüder erkennen. Für mich war es sehr bewegend, mit welcher Herzlichkeit mich Staatspräsident Peres empfangen hat, der eine große Persönlichkeit ist. Er trägt ja selbst eine schwere Erinnerung mit sich. Sie wissen, dass man seinen Vater in eine Synagoge einsperrte, die dann angezündet wurde. Aber er kam mit einer großen Offenheit auf mich zu und mit dem Wissen, dass wir um gemeinsame Werte und um den Frieden, um die Zukunftsgestaltung ringen, und dass dabei die Frage der Existenz Israels eine wichtige Rolle spielt. Insgesamt war die Gastfreundschaft groß. Ich war, würde ich sagen, vielleicht zu stark geschützt. Der Umfang des Schutzes, der mir zuteil wurde, war jedenfalls gewaltig. Aber wir konnten, was bei Johannes Paul II. noch nicht möglich gewesen war, zwei große öffentliche Gottesdienste in Israel feiern, einen sehr schönen in Jerusalem und dann, was sehr bewegend war, einen in Nazareth auf der Höhe, von der man den Herrn hinabstürzen wollte. Das war eine große, sichtbare Manifestation christlichen Glaubens im Staat Israel. Und dann geht es einem natürlich immer zu Herzen, an die Stätte der Verkündigung zu gehen, an den Ort der Geburt, den Ort der Kreuzigung, an das Grab. Hier konnte ich auch die anderen christlichen Gemeinden treffen. Das waren alles große und bewegende Erlebnisse. Schließlich habe ich auch Jordanien und das palästinensische Gebiet besucht und ein sehr herzliches Verhältnis zum König von Jordanien, zum ganzen Königshaus herstellen können. Er hat mir mehrere hundert Flaschen Wasser aus dem Jordan geschenkt, um sie für die Spendung der Taufe zur Verfügung zu stellen. Im palästinensischen Autonomiebereich gab es beeindruckende Begegnungen mit Kindern, deren Eltern in Israel gefangen gehalten werden. Wir haben also auch die andere Seite des Leidens gesehen, und so ist insgesamt ein großes Panorama der Leiden auf beiden Seiten entstanden. Eines wurde dadurch noch deutlicher: dass mit Gewalt nichts gelöst wird, dass die einzige Lösung der Friede ist, und dass alles getan werden muss, damit beide Seiten in diesem gequälten Land miteinander in Frieden leben können. * Blicken wir auf die ersten fünf Jahre Ihres Pontifikats zurück: Wie sieht eine kurze Zwischenbilanz dieser Amtszeit aus? Was glauben Sie schon erreicht zu haben, was scheint Ihnen besonders gelungen? Die großen Reisen waren wichtige Begegnungen mit den verschiedenen Kulturen und haben ihre bleibende Wirkung; sie waren nicht irgendwelche Shows. Wenn ich an Brasilien denke, was es da in der Begegnung mit den Bischöfen für einen Aufbruch gab! Wir haben die Kontinentalmission gestartet, die jetzt wirklich die Programme der Diözesen bestimmt. Oder nehmen wir die Begegnung mit der Fazenda da Esperança, einer Drogenheilstätte. Da kann sich der gute Pater Hans Stapel vor Anfragen aus der ganzen Welt nach Filialen, die jetzt überall gegründet werden, gar nicht mehr retten. Überall spürte man das Bewusstsein, dass die katholische Kirche lebt und kraftvoll ist. Ebenso war es in den Vereinigten Staaten, in Frankreich, in Portugal. Ich denke, gut waren die Reisen nach Tschechien, nach Österreich, nach Polen mit diesem Erlebnis der Lebendigkeit, nach Australien natürlich, nach Afrika, wo es eine Dynamik der Freude gab, die wirklich ansteckend wirkte. Es war überall ein Sich-selbst-Begegnen der Kirche und so eine Begegnung mit dem Herrn, so dass die Kirche sich ihrer selbst bewusst wurde vor dem Herrn und sich bewusst wurde, vom Herrn zu kommen. Das ist überall neu ins Gedächtnis getreten. Insofern waren diese und auch die anderen Reisen irgendwie der rote Faden, der sich durch das bisherige Pontifikat zog und vieles bewirkt hat. Zum andern gab es da die Akzente der beiden großen Jahre, des Paulusjahres und des Priesterjahres, durch die wesentliche Lichter des Glaubens neu aufleuchteten und zur gemeinsamen Meditation wurden. Von großem Gewicht und Orte der Begegnung mit bewegenden Zeugnissen waren die beiden Synoden, vor allem die Synode über das Wort Gottes. Auf der anderen Seite stehen diese große Skandalperiode und die Wunden, die der Kirche geschlagen wurden, die aber doch, wie wir schon gesagt haben, für uns reinigende Kraft haben und am Ende damit positive Elemente sein können. Sie sprachen einmal davon, Sie müssten dieses Amt gewissermaßen auch „ertragen“. Sind Sie auch enttäuscht über manche Dinge, die nicht möglich waren? Sicher bin ich auch enttäuscht. Darüber, dass vor allem in der westlichen Welt diese Unlust an der Kirche besteht, dass die Säkularität sich weiter verselbständigt, Formen entwickelt, in denen sie den Menschen immer mehr vom Glauben wegführt, dass der Gesamttrend unserer Zeit weiterhin der Kirche entgegensteht. Aber ich glaube, das ist eben auch die christliche Situation, dieser Kampf zweier Arten von Liebe; das war immer so, und da wird einmal die eine Seite und einmal die andere Seite stärker sein. Paul VI. hat die Tiara verkauft und den Erlös zur Verfügung gestellt. Ihr Namensvorgänger Benedikt XV. hat nach dem Ersten Weltkrieg die Kassen ausgeleert, um das Geld den Armen zu geben. Auch heute wartet die Welt auf demonstrative Gesten des Vatikans; Zeichen, welche die Ernsthaftigkeit einer Reinigung und die Besinnung auf die Ursprünge der apostolischen Kirche für jedermann sichtbar zum Ausdruck bringen. Wann macht Benedikt XVI. ernst mit seinem eigenen Wort, die Kirche müsse sich von ihren Gütern trennen, um ihr Gut zu bewahren? Das ist ein Wort, das Pius X. bei der Krise in Frankreich gebraucht hat, als es darum ging, entweder das Staatssystem anzunehmen – das der Kirche zwar Vorteile, sie aber zugleich unter das Regime des Staates gebracht hätte – oder zu verzichten und in der Armut zu leben; dann steht das Gut über den Gütern. Das ist ein Maßstab, der immer bleibt und in jeder Entscheidung, vor allem auch in den politischen Entscheidungen, die wir fällen, bedacht sein muss. Aber es ist auch nicht so, dass wir leichtfertig Güter wegwerfen, solange sie ihren Dienstcharakter behalten. Die Frage ist, wie lange eine Sache wirklich dem Ganzen dient. Es sollte nie sein, dass wir ihr unterworfen werden, so dass dann die Güter das Gut beherrschen, sondern immer umgekehrt. Im Moment sieht es ganz danach aus, als würde nach dieser ersten Fünf-Jahres-Periode und den Missbräuchen, die wir angesprochen haben, das Pontifikat Benedikts XVI. eher noch drängender, entschiedener werden. Sie sprachen sogar von einem „neuen Zeitalter der Evangelisierung“. Was wir vermögen und zustandebringen, das muss man abwarten. Aber dass wir mit einer frischen Kraft darangehen müssen, wie dieser Welt das Evangelium neu verkündet werden kann, so dass es in ihr ankommt, und dass wir dafür alle Energien aufbieten müssen, das gehört zu den Programmpunkten, die mir aufgegeben sind. Das Dekret mit der Rücknahme der Exkommunikation trägt das Datum 21. Januar 2009. Zugestellt wird es bereits am 20. Januar. Genau am 21. Januar, also ab dem Zeitpunkt, an dem das Dekret in den Händen der Piusbrüder und nicht mehr rückholbar ist, strahlt das schwedische Fernsehen erstmals das verhängnisvolle Interview aus, in dem Williamson die Gaskammern der Nazis leugnet. Aufgezeichnet wurde dieses Interview aber bereits im November 2008. Williamson hatte früher erklärt, die Bruderschaft könne nur dankbar sein für den jeweiligen „Schutz“ durch die Exkommunikation. Dadurch sei man vor Ansteckungsgefahr durch die „Neo-Modernisten“ im Vatikan sicher. Da es bis dahin unveröffentlicht war, konnte auch niemand im Vatikan etwas von den darin geäußerten Sätzen wissen. Erst die Ausstrahlung am 21. Januar machte diese Bombe scharf. Und damit sie auch wirklich hochgeht, wurden offenbar geneigte Journalisten gezielt auf den „Knaller“ angesetzt. Teil III WO GEHEN WIR HIN? 13 Kirche, Glaube und Gesellschaft Die Probleme der Gesellschaft sind nicht geringer geworden, und sie stellen die Fragen unserer Lebensgestaltung mit neuer Dringlichkeit: Was sind unsere Werte und Maßstäbe? Mit was beschäftigen wir uns eigentlich? Wie wollen wir künftig leben? Wir sehen in unseren Tagen, wie die Welt Gefahr läuft, ins Bodenlose abzurutschen. Dass ein entfesseltes Wirtschaftssystem sich zu einem Raubtierkapitalismus entwickeln kann, der ungeheure Werte verschlingt; dass uns das Hochgeschwindigkeitsleben nicht nur überfordert, sondern auch desorientiert; dass neben der rastlosen auch eine ratlose Gesellschaft herangewachsen ist, die heute für falsch hält, was gestern noch als richtig galt, und morgen für richtig, was heute als falsch gilt. Da gibt es Krankheiten wie Burn-out als Massenphänomen, neue Süchte wie Spiel- und Pornosucht. Da entstand im Optimierungswahn der Konzerne ein kaum noch zu bewältigender Arbeitsstress; da ist die prekäre Situation von Kindern, die unter dem Verlust von Familienbeziehungen leiden; die Dominanz der Medien, die eine Kultur des Tabubruchs, der Verdummung und der moralischen Abstumpfung entwickelt haben; da sind die elektronischen Unterhaltungsangebote, die unsere menschlichen Qualitäten manipulieren und zerstören könnten. Heiliger Vater, der Beitrag der Kirche für die Entwicklung der Zivilisation war stets von großer Relevanz. Heute hingegen macht sich in vielen Ländern eine Haltung der Geringschätzung und immer häufiger auch der Feindseligkeit gegenüber der christlichen Religion breit. Was ist da eigentlich passiert? Zunächst einmal ist es so, dass die Entwicklung des neuzeitlichen Fortschrittsdenkens und der Wissenschaft eine Mentalität geschaffen hat, durch die man glaubt, die „Hypothese Gott“, wie Laplace sich ausdrückte, überflüssig zu machen. Heute meint der Mensch all das selbst zu können, was er früher nur von Gott erwartet hat. Nach diesem Denkmodell, das sich für wissenschaftlich hält, erscheinen die Dinge des Glaubens als archaisch, als mythisch, als einer vergangenen Zivilisation angehörend. Religion, jedenfalls die christliche, wird dann als ein Relikt aus der Vergangenheit eingeordnet. Schon im 18. Jahrhundert verkündete die Aufklärung, eines Tages werde auch der Papst, dieser Dalai Lama Europas, verschwinden müssen. Die Aufklärung werde diese mythischen Rückstände endgültig beseitigen. Ist da ein Autoritätsproblem, weil sich eine liberalistische Gesellschaft nichts mehr sagen lassen will? Oder ist das auch ein Kommunikationsproblem, weil sich die Kirche mit ihren scheinbar überkommenen Werten, mit Begriffen wie Sünde, Reue und Umkehr nicht mehr mitteilen kann? Es ist beides, würde ich sagen. Dieses Denken, das so viele Erfolge verzeichnet und viel Richtiges beinhaltet, hat die Grundorientierung des Menschen zur Wirklichkeit verändert. Er sucht nicht mehr das Geheimnis, das Göttliche, sondern er glaubt zu wissen: Die Wissenschaft wird all das, was wir jetzt noch nicht verstehen, irgendwann noch enträtseln. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, dann beherrschen wir alles. Auf diese Weise wurde die Wissenschaftlichkeit die oberste Kategorie überhaupt. Ich habe neulich lachen müssen. Da wurde im Fernsehen gesagt, es sei jetzt wissenschaftlich bewiesen, dass die Zärtlichkeit der Mütter für die Kinder nützlich ist. Man mag solche Untersuchungen für eine Verrücktheit oder einen populistischen und infantilen Falschbegriff von Wissenschaft halten, aber er zeigt auch ein Muster an. Eben ein Denken, in dem der Glaube an das Geheimnis, an das Wirken Gottes, die ganze religiöse Dimension als „nicht wissenschaftlich“ hinfällig geworden ist und keinen Raum mehr findet. Das ist die eine Seite. Und die andere? Die andere ist, dass gerade die Wissenschaft nun auch wieder ihre Grenzen sieht, dass viele Wissenschaftler heute sagen, von irgendwoher muss das Ganze ja kommen, wir müssen diese Frage wieder neu stellen. Damit wächst auch wieder ein neues Verstehen des Religiösen; nicht als eines Phänomens mythologischer, archaischer Natur, sondern aus dem inneren Zusammenhang des Logos heraus – so, wie das Evangelium eigentlich Glauben gewollt und verkündet hat. Aber wie gesagt, Religiosität muss sich neu regenerieren in diesem großen Kontext – und damit auch neue Ausdrucks- und Verstehensformen finden. Der Mensch von heute begreift nicht mehr so ohne Weiteres, dass das Blut Christi am Kreuz Sühne für seine Sünden ist. Das sind Formeln, die groß und wahr sind, die aber in unserem ganzen Denkgefüge und unserem Weltbild keinen Ort mehr haben, die übersetzt und neu begriffen werden müssen. Wir müssen beispielsweise wieder verstehen, dass das Böse wirklich aufgearbeitet werden muss. Man kann es nicht einfach wegschieben oder vergessen. Es muss von innen her aufgearbeitet, verwandelt werden. Was heißt das? Das heißt, dass wir wirklich in einem Zeitalter sind, in dem eine neue Evangelisierung nötig ist; in dem das eine Evangelium in seiner großen, bleibenden Rationalität und zugleich in seiner die Rationalität übersteigenden Macht verkündet werden muss, um neu in unser Denken und Verstehen zu kommen. Der Mensch bleibt, bei aller Veränderung, freilich immer auch derselbe. Es gäbe nicht so viele Gläubige, wenn die Menschen nicht weiterhin im Herzen verstehen würden: Ja, was da in der Religion gesagt wird, das ist es, was wir brauchen. Die Wissenschaft allein, so wie sie sich isoliert und autonomisiert, deckt unser Leben nicht ab. Sie ist ein Sektor, der uns Großes bringt, aber sie hängt ihrerseits davon ab, dass der Mensch Mensch bleibt. Wir haben ja gesehen, dass im Fortschritt zwar unser Können gewachsen ist, aber nicht auch unsere moralische und menschliche Größe und Potenz. Dass wir wieder ein inneres Gleichgewicht finden müssen und auch geistliches Wachstum brauchen, das erkennen wir durch die großen Bedrängnisse der Zeit immer mehr. Auch bei den vielen Begegnungen mit den großen Staatslenkern sehe ich ein starkes Bewusstsein dafür, dass ohne die Kraft der religiösen Autorität die Welt nicht funktionieren kann. Bevor wir über Probleme der katholischen Kirche und über die Zukunft der Kirche sprechen, möchte ich nachfragen, was Kirche, dieser „geistliche Organismus“, wie Sie einmal sagten, überhaupt ist. Sie haben in einer Predigt auf ein Wort Pauls VI. zurückgegriffen, der die Kirche, wie er sagte, so sehr liebte, dass er sie stets „umarmen, grüßen, lieben wollte“. Der Papst meinte darin: „Ich möchte sie schließlich in allem verstehen, in ihrer Geschichte, ihrem göttlichen Heilsplan, in ihrer endgültigen Bestimmung, in ihrer Komplexität.“ Paul VI. schloss mit den Worten: „geheimnisvoller Leib Christi“. Er hat damit aufgegriffen, was der heilige Paulus entwickelt hat, der die Kirche als die bleibende Leibhaftigkeit Christi, als den lebendigen Organismus Christi definiert hat. Paulus begriff sie eben nicht als Institution, nicht als Organisation, sondern als lebendigen Organismus, in dem alle miteinander und zueinander wirken, in dem sie von Christus her geeint sind. Das ist ein Bild, aber ein Bild, das in die Tiefe führt und schon deswegen sehr realistisch ist, weil wir glauben, dass wir in der Eucharistie wirklich Christus, den Auferstandenen, empfangen. Und wenn jeder den gleichen Christus empfängt, sind wir alle wirklich in diesem neuen, auferstandenen Leib als dem großen Raum einer neuen Menschheit versammelt. Das zu verstehen ist wichtig, um von daher Kirche nicht als einen Apparat zu begreifen, der alles Mögliche machen muss – der Apparat gehört auch dazu, aber in Grenzen –, sondern als lebendigen Organismus, der von Christus selbst herkommt. In vielen Ländern kämpfen Laieninitiativen für mehr Unabhängigkeit von Rom und eine national und demokratisch ausgerichtete Landeskirche. Der Vatikan wird dabei als eine Diktatur gezeichnet, der Papst als jemand, der mit autoritärer Hand seine Positionen durchdrückt. Wer die Situation genauer betrachtet, bemerkt eher die Zunahme der Zentrifugal- als der Zentralkräfte, eher den Aufstand gegen Rom als die Solidarität mit Rom. Gibt es durch den nun seit Jahrzehnten anhaltenden Richtungskampf nicht längst auch eine Art Schisma innerhalb der katholischen Kirche? Zunächst einmal würde ich sagen, der Papst hat nicht die Macht, etwas zu erzwingen. Seine „Macht“ besteht allein darin, dass Überzeugung da ist, dass die Menschen begreifen: Wir gehören zusammen, und der Papst hat einen Auftrag, den er sich nicht selbst gegeben hat. Nur wenn Überzeugung da ist, kann das Ganze gelingen. Nur durch die Überzeugung des gemeinsamen Glaubens kann die Kirche auch gemeinschaftlich leben. Ich bekomme so viele Briefe von einfachen Menschen wie auch prominenten Persönlichkeiten, die mir schreiben: „Wir sind eins mit dem Papst, für uns ist er der Stellvertreter Christi und der Nachfolger Petri, seien Sie versichert, wir glauben und leben in der Gemeinschaft mit Ihnen.“ Natürlich gibt es immer schon, nicht erst jetzt, die zentrifugalen Kräfte, die Tendenz zu Nationalkirchen, die ja auch entstanden sind. Doch gerade heute, in der globalisierten Gesellschaft, in der Notwendigkeit einer inneren Einheit der Weltgemeinschaft, wird sichtbar, dass dies eigentlich Anachronismen sind. Es wird deutlich, dass eine Kirche nicht wächst, indem sie sich national einigelt, sich separiert und in einen bestimmten Kulturteil hineinsperrt und diesen verabsolutiert, sondern dass Kirche Einheit braucht, dass sie so etwas wie Primat braucht. Für mich war interessant, dass der in Amerika lebende orthodoxe russische Theologe John Meyendorff gesagt hat, ihre Autokephalien 1 seien ihr größtes Problem; sie bräuchten so etwas wie einen Ersten, einen Primas. Auch in anderen Gemeinschaften wird das gesagt. Die Probleme der nichtkatholischen Christenheit beruhen sowohl vom Theologischen als auch vom Pragmatischen her weitgehend auch darauf, dass sie kein Organ der Einheit haben. So wird auch von daher deutlich, dass ein Einheitsorgan nötig ist, das natürlich nicht diktatorisch handelt, sondern aus der inneren Gemeinschaft des Glaubens heraus. Es wird zwar weiterhin die zentrifugalen Tendenzen geben, aber die Entwicklung der Geschichte, der Richtungspfeil der Geschichte sagt uns: Kirche braucht ein Organ der Einheit. In den vergangenen Jahrzehnten gab es in vielen Bistümern kaum ein pastorales Experiment, auf das im Bemühen um eine „Modernisierung“ der Kirche verzichtet worden wäre. Der Philosoph Rüdiger Safranski kritisierte, Christentum habe sich dabei zu einem „kalten Religionsprojekt“ entwickelt, zu einem „Gemisch aus Sozialethik, institutionellem Machtdenken, Psychotherapie, Meditationstechnik, Museumsdienst, Kulturmanagement und Sozialarbeit“. In einem weit verbreiten So-wie-alle-sein-Wollen, beobachten Kritiker, sei im Kirchenvolk das Gespür dafür abhanden gekommen, dass der Glaube aus ganz anderen Wurzeln wächst als die Spaßgesellschaften des Westens. Aber auch viele Theologen und Priester haben sich inzwischen so weit von der Grundlinie entfernt, dass ein katholisches Profil oft nur noch ganz schwer zu erkennen ist. Was ist da schiefgelaufen? Nun, es sind eben die Kräfte des Zerfalls, die in der Menschenseele da sind. Hinzu kommt das Streben danach, beim Publikum anzukommen; oder auch, irgendeine Insel zu finden, wo es Neuland gibt und wir noch eigenständig gestalten können. Es geht dann entweder in die Richtung, dass man politischen Moralismus betreibt, wie es in der Befreiungstheologie und in anderen Experimenten der Fall war, um auf diese Weise sozusagen dem Christentum Gegenwärtigkeit zu geben. Oder es wandelt sich in Richtung Psychotherapie und Wellness, in Formen also, wo Religion damit identifiziert wird, dass ich irgendein ganzheitliches Wohlbefinden habe. Alle diese Versuche gehen daraus hervor, dass man die eigentliche Wurzel, den Glauben, weglässt. Was dann bleibt – das haben Sie in Ihren Zitaten richtig beschrieben –, sind selbstgemachte Projekte, die vielleicht einen begrenzten Lebenswert haben, die aber keine überzeugende Gemeinschaft mit Gott herstellen und auch die Menschen nicht bleibend miteinander verbinden können. Es sind Inseln, auf denen sich gewisse Leute ansiedeln, und diese Inseln sind vergänglicher Art, weil die Moden bekanntlich wechseln. In diesem Zusammenhang muss man fragen: Wie ist es möglich, dass in vielen Ländern des Westens alle Schulkinder viele Jahre lang katholische Religion lernen, um am Ende vielleicht den Buddhismus, vom Katholizismus aber noch nicht einmal die Grundmerkmale zu kennen? All dies geschieht unter der Verantwortung der Bistümer. Das ist eine Frage, die ich mir auch stelle. In Deutschland hat jedes Kind neun bis dreizehn Jahre Religionsunterricht. Wieso dann gar so wenig hängen bleibt, um es mal so auszudrücken, ist unbegreiflich. Hier müssen die Bischöfe in der Tat ernsthaft darüber nachdenken, wie der Katechese ein neues Herz, ein neues Gesicht gegeben werden kann. Auch in kirchlichen Medien hat sich eine heute als chic geltende „Kultur des Zweifelns“ eingenistet. Ganze Redaktionen übernehmen dabei unkritisch die Schlagwörter der üblichen Kirchenkritik. Bischöfe folgen ihren Medienberatern, die ihnen einen seichten Kurs empfehlen, damit ihr liberales Image keinen Schaden nehme. Wenn dann auch noch große kircheneigene Medienkonzerne religiöse Bücher aus dem Hauptsortiment nehmen – ist es dann nicht problematisch, noch glaubwürdig von Neuevangelisierung zu sprechen? Das sind alles Phänomene, die man nur mit Trauer beobachten kann. Dass es sozusagen Berufskatholiken gibt, die von ihrer katholischen Konfession leben, aber in denen die Quelle des Glaubens offenbar nur noch ganz leise, in einzelnen Tropfen wirksam wird. Wir müssen uns wirklich darum bemühen, dass das anders wird. Ich beobachte in Italien – wo es weit weniger institutionelle kirchliche Unternehmen gibt –, dass Initiativen nicht deshalb entstehen, weil die Kirche als Institution etwas einrichtet, sondern weil die Menschen selbst gläubig sind. Spontane Aufbrüche entstehen nicht aus einer Institution, sondern aus einem authentischen Glauben heraus. Kirche muss immer auch in Bewegung bleiben, sie ist permanent „auf dem Weg“. Fragt sich der Papst nicht auch, ob er sich bei manchen Dingen nicht gegen etwas stemmt, das gar nicht aufzuhalten ist, weil es einfach dem notwendigen Zivilisationsprozess entspricht, dem sich die Kirche nicht verweigern kann? Man muss natürlich immer fragen, welche Dinge, auch wenn sie einmal als wesentlich christlich galten, in Wirklichkeit nur Ausdruck einer bestimmten Epoche waren. Was also ist das wirklich Wesentliche? Das heißt, wir müssen immer wieder auf das Evangelium und die Worte des Glaubens zurückgehen, um zu sehen: erstens, was gehört dazu?; zweitens, was ändert sich rechtmäßig im Wandel der Zeiten?; und drittens, was gehört nicht dazu? Der maßgebliche Punkt ist letztendlich also immer, die richtige Unterscheidung zu finden. Von autokephal (griech. für selbstbestimmt); in der orthodoxen Kirche Bezeichnung für eine autonome Kirche. Autokephalien werden von einem eigenen Oberhaupt regiert und bestimmen ihren Erzbischof/Metropoliten selbst. 14 Der sogenannte Reformstau Zölibat, Frauenpriestertum, Homosexualität – seit Jahrzehnten beherrscht dieser Kanon von immer gleichen Fragen die Diskussion in den Medien. Erst wenn diese Dinge positiv beantwortet seien, werde die Kirche wieder attraktiv sein. Auffällig ist: In Deutschland verliert die evangelische Kirche – ohne Zölibat, mit Frauenpriestertum – mehr Gläubige als die katholische. Wahr ist aber auch, dass diese Positionen die Verkündigung erschweren. Gehen wir kurz einige Punkte durch. Katholiken, die nach einer Scheidung wieder heiraten, sind vom Kommunionempfang ausgeschlossen. Über diese Regelung, meinten Sie einmal, müsse man „intensiver nachdenken“. Natürlich muss man das tun. Einerseits gibt es die Gewissheit, dass der Herr uns sagt: Die Ehe, die im Glauben geschlossen ist, ist unauflösbar. Dieses Wort können wir nicht manipulieren. Wir müssen es so stehen lassen – auch wenn es den Lebensformen widerspricht, die heute dominant sind. Es gab Epochen, in denen das Christliche so gegenwärtig war, dass die Unauflöslichkeit der Ehe die Norm war, aber in vielen Zivilisationen ist sie das nicht. Mir sagen immer wieder Bischöfe aus Ländern der Dritten Welt: „Das Sakrament der Ehe ist das schwierigste von allen.“ Oder auch: „Bei uns ist es noch gar nicht angekommen.“ Dieses Sakrament in Ausgleich zu bringen mit den herkömmlichen Weisen des Zusammenlebens, ist ein Vorgang, in den die ganze Existenz eingebunden ist, und ein Ringen, dessen Ausgang nicht erzwungen werden kann. Insofern ist das, was wir jetzt in der sich allmählich zersetzenden abendländischen Gesellschaft erleben, nicht der einzige Krisenfall in dieser Frage. Die monogame Ehe aber deswegen aufzugeben oder das Ringen um diese Form abzubrechen, würde dem Evangelium widersprechen. Der Schöpfer hat die Menschen als Mann und Frau geschaffen, sagt Jesus, und was Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen. Aber schon die ersten Jünger murrten über dieses Gebot. Ja. Was man tun kann, ist zum einen, die Frage der Gültigkeit der Ehen genauer zu untersuchen. Bisher wurde vom Kirchenrecht vorausgesetzt, dass jemand, der eine Ehe eingeht, weiß, was Ehe ist. Dieses Wissen vorausgesetzt, ist die Ehe gültig und unscheidbar. In dem heutigen Gewirr der Meinungen, in der total veränderten Konstellation „weiß“ man aber eher, dass es normal sei, die Ehe zu brechen. So muss man fragen, wie man Gültigkeit erkennt und wo Heilungen möglich sind. Es wird immer ein Ringen bleiben. Aber deshalb den Maßstab nicht mehr hochzuhalten und nachzugeben, würde die Gesellschaft in ihrem moralischen Niveau nicht heben. Das Schwierige als Maßstab zu erhalten, an dem die Menschen sich immer wieder messen können, ist ein Auftrag, der nötig ist, damit nicht weitere Abstürze erfolgen. Insofern besteht da eine gewisse innere Spannung. Die Pastoral muss dann suchen, wie sie den einzelnen Menschen nahe bleibt und ihnen hilft, auch in ihrer, sagen wir, irregulären Situation an Christus als den Heiland zu glauben, an seine Güte zu glauben, weil er immer noch für sie da ist, auch wenn sie die Kommunion nicht empfangen können. Und in der Kirche zu bleiben, auch wenn ihre Situation kirchenrechtlich nicht stimmig ist. Sie muss helfen anzuerkennen: Ich bin zwar unterhalb dessen, was ich als Christ sein sollte, aber ich höre nicht auf, Christ zu sein, von Christus geliebt zu werden, und umso mehr bleibe ich in der Kirche, weil ich umso mehr von Ihm getragen werde. Paul VI. hat die Frage der Empfängnisverhütung 1968 zum Thema seiner berühmten Enzyklika „Humanae vitae“ gemacht. Er verwies seinerzeit darauf, dass es fatale Auswirkungen habe, wenn der Mensch in die natürliche Ordnung eingreift. Das Leben sei zu groß, zu heilig, als dass wir darin herumpfuschen dürfen. Es ist, als wollte er sagen: Wenn wir das Leben von Kindern nicht achten, werden auch wir selbst, unsere Gesellschaft, unsere Welt das Leben verlieren. Vielleicht hat man damals diese Vision noch nicht verstehen können. Heute erleben wir nicht nur die enorm schädlichen Auswirkungen der AntiBaby-Pille auf Gesundheit und Umwelt, sondern auch, wie unsere sozialen Systeme zusammenbrechen, weil wir eine kinderlose Gesellschaft geworden sind, die ihre Grundlagen verliert. Dennoch gelingt es der katholischen Kirche kaum noch, ihre Sexualethik überhaupt verständlich zu machen. Ein brasilianisches Topmodel beispielsweise meint, heutzutage gehe eben keine Frau mehr als Jungfrau in die Ehe. Ein emeritierter Weihbischof kritisiert, die Fragen der Sexualität vor der Ehe würden von der Kirche so beantwortet, „dass sie für die Menschen kaum lebbar sind und wohl auch anders gelebt werden“. Das ist ein großes Problemfeld. Wir können in diesem Rahmen nicht auf die Vielschichtigkeit und die Details eingehen. Dass vieles in diesem Bereich neu bedacht, neu ausgesagt werden muss, ist richtig. Aber andererseits würde ich gegenüber dem, was das Topmodel meint und was auch viele andere Menschen denken, festhalten, dass die Statistik nicht schon der Maßstab der Moral sein kann. Es ist schlimm genug, wenn die Demoskopie zum Maßstab der politischen Entscheidung wird und man danach schielt: „Wo kriege ich mehr Anhänger?“, anstatt zu fragen: „Was ist richtig?“. So sind auch die Umfrageergebnisse darüber, was man tut, wie man lebt, nicht in sich schon der Maßstab für das Wahre und das Richtige. Paul VI. hat prophetisch Recht behalten. Er war der Überzeugung, dass die Gesellschaft sich selbst ihrer großen Hoffnungen beraubt, wenn sie durch Abtreibung Menschen tötet. Wie viele Kinder werden getötet, die einmal Genies werden könnten, die der Menschheit Neues schenken, die uns einen neuen Mozart schenken, die uns technische Einsicht schenken könnten? Man muss einmal bedenken, welche Kapazität an Menschsein hier zerstört wird – ganz abgesehen davon, dass ungeborene Kinder menschliche Personen sind, deren Würde und deren Recht auf Leben wir zu respektieren haben. Die Anti-Baby-Pille ist noch einmal ein anderes Problem. Ja. Was Paul VI. sagen wollte und was als große Vision richtig bleibt, ist: Wenn man Sexualität und Fruchtbarkeit grundsätzlich voneinander trennt, wie es durch die Anwendung der Pille geschieht, dann wird Sexualität beliebig. Dann sind in der Folge auch alle Arten von Sexualität gleichwertig. Dieser Auffassung, die die Fruchtbarkeit als etwas anderes betrachtet, womöglich so, dass man die Kinder rational produziert und sie nicht mehr als ein natürliches Geschenk sieht, ist ja auch sehr schnell die Gleichbewertung der Homosexualität gefolgt. Die Perspektiven von „Humanae vitae“ bleiben richtig. Nun aber wiederum Wege der Lebbarkeit zu finden, ist etwas anderes. Ich glaube, es wird immer Kerngruppen geben, die sich davon wirklich innerlich überzeugen und erfüllen lassen und dann andere mittragen. Wir sind Sünder. Aber wir sollten es nicht als Instanz gegen die Wahrheit nehmen, wenn diese hohe Moral nicht gelebt wird. Wir sollten versuchen, so viel Gutes zu tun, wie wir können, und einander zu tragen und zu ertragen. Dies alles auch pastoral, theologisch und gedanklich im Kontext der heutigen Sexualforschung und Anthropologie so auszusagen, dass es verständlich wird, das ist eine große Aufgabe, an der gearbeitet wird und an der noch mehr und noch besser gearbeitet werden muss. Unterstützung gäbe es zumindest von dem ehemaligen Hollywood- und Sexsymbol Raquel Welch. Die US-Schauspielerin sagt heute, die Einführung der Anti-Baby-Pille vor 50 Jahren habe zu Sex ohne Verantwortung geführt. Sie schwäche Ehe und Familie und führe zu „chaotischen Verhältnissen“. Lehnt die katholische Kirche eigentlich jegliche Empfängnisregelung ab? Nein. Es ist ja bekannt, dass sie die natürliche Empfängnisregelung bejaht, die nicht nur eine Methode ist, sondern ein Weg. Denn sie setzt voraus, dass man Zeit füreinander hat. Dass man in einer Beziehung lebt, die von Dauer ist. Und das ist etwas grundlegend anderes, als wenn ich ohne innere Bindung an eine andere Person die Pille nehme, um mich schnell der nächstbesten Bekanntschaft hinzugeben. Dass nur Katholiken an der Eucharistie teilnehmen dürfen, wird als Ausschluss verstanden, von manchen gar als Diskriminierung. Man könne nicht von der Einheit der Christen sprechen, wenn man nicht einmal dazu bereit sei, gemeinsam am Altar das Vermächtnis Jesu zu feiern. Was sagt der Papst dazu? Nicht nur die katholische Kirche, auch die gesamte Weltorthodoxie lehrt, dass nur, wer ganz im Glauben zu ihr gehört, die Eucharistie empfangen kann. Vom Neuen Testament wie von den Apostolischen Vätern her ist unmissverständlich, dass die Eucharistie das Innerste der Kirche ist – das Leben im Leib Christi in der einen Gemeinschaft. Deswegen ist Eucharistie nicht irgendein sozialer Ritus, wo man sich freundlich begegnet, sondern Ausdruck des Seins in der Mitte der Kirche. Sie kann daher von dieser Bedingung des Dazugehörens nicht gelöst werden – weil sie ganz einfach der Akt des Dazugehörens selbst ist. Der Zölibat scheint immer an allem schuld zu sein. Ob an sexuellem Missbrauch, Kirchenaustritten oder Priestermangel. Was Letzteres betrifft, sollte man vielleicht sagen: Es gibt in Relation zu den Messbesuchern heute nicht weniger, sondern sogar mehr Priester. In Deutschland zumindest hat sich die Zahl der Priester im Verhältnis zu den heute noch praktizierenden Katholiken im Vergleich zu 1960 regelrecht verdoppelt. Aber inzwischen empfehlen selbst Bischöfe, „mehr Phantasie und etwas mehr Großmut“ zu entwickeln, um „neben der Grundform zölibatären Priestertums auch den Dienst eines verheirateten Menschen als Priester möglich machen zu können“. Dass Bischöfe in der Verwirrung der Zeit auch darüber nachdenken, kann ich schon verstehen. Schwierig wird es dann, zu sagen, wie ein solches Nebeneinander überhaupt aussehen sollte. Ich glaube, dass der Zölibat an seiner bedeutenden Zeichenhaftigkeit und vor allem auch an Lebbarkeit gewinnt, wenn sich Priestergemeinschaften bilden. Es ist wichtig, dass die Priester nicht irgendwo isoliert leben, sondern in kleinen Gemeinschaften beieinander sind, einander mittragen und so das Miteinander in ihrem Dienst für Christus und in ihrem Verzicht um des Himmelreiches willen erfahren und sich das auch immer wieder bewusst machen. Der Zölibat ist immer ein, sagen wir, Angriff auf das, was der Mensch normal denkt; etwas, das nur realisierbar und glaubhaft ist, wenn es Gott gibt und wenn ich dadurch für das Reich Gottes eintrete. Insofern ist der Zölibat ein Zeichen besonderer Art. Der Skandal, den er auslöst, liegt eben auch darin, dass er zeigt: Es gibt Menschen, die das glauben. Insofern hat dieser Skandal auch seine positive Seite. Die Nicht-Möglichkeit der Frauenordination in der katholischen Kirche ist durch ein „Non possumus“ des obersten Lehramtes klar entschieden. Die Glaubenskongregation hat dies unter Paul VI. in dem Dokument „Inter insigniores“ von 1976 festgehalten, Johannes Paul II. hat es im Apostolischen Schreiben „Ordinatio Sacerdotalis“ von 1994 bekräftigt. Wörtlich erklärt er darin über „die göttliche Verfassung der Kirche“ kraft seines Amtes, „dass die Kirche keinerlei Vollmacht hat, Frauen die Priesterweihe zu spenden, und dass sich alle Gläubigen der Kirche endgültig an diese Entscheidung zu halten haben.“ Kritiker sehen darin eine Diskriminierung. Jesus habe nur deshalb Frauen nicht zu Priesterinnen berufen, weil dies vor 2000 Jahren undenkbar gewesen wäre. Das ist Unsinn, denn die Welt damals war voller Priesterinnen. Alle Religionen hatten ihre Priesterinnen, und es war eher erstaunlich, dass es sie in der Gemeinde Jesu Christi nicht gab, was allerdings wiederum in Kontinuität mit dem Glauben Israels steht. Die Formulierung von Johannes Paul II. ist sehr wichtig: Die Kirche hat „keinerlei Vollmacht“, Frauen zu weihen. Es ist nicht so, dass wir sagen, wir mögen nicht, sondern: wir können nicht. Der Herr hat der Kirche eine Gestalt gegeben mit den Zwölfen – und in deren Nachfolge dann mit den Bischöfen und den Presbytern, den Priestern. Diese Gestalt der Kirche haben nicht wir gemacht, sondern sie ist von Ihm her konstitutiv. Dem zu folgen ist ein Akt des Gehorsams, eines in heutiger Situation vielleicht mühsamen Gehorsams. Aber gerade dies ist wichtig, dass die Kirche zeigt: Wir sind kein Willkürregime. Wir können nicht machen, was wir wollen. Sondern es gibt einen Willen des Herrn für uns, an den wir uns halten, auch wenn dies in dieser Kultur und dieser Zivilisation mühsam und schwierig ist. Im Übrigen gibt es so viele große, bedeutende Funktionen der Frauen in der Kirche, dass von Diskriminierung nicht gesprochen werden kann. Das wäre dann der Fall, wenn das Priestertum eine Art Herrschaft wäre, während es doch ganz Dienst sein soll. Wenn man sich die Kirchengeschichte ansieht, so ist die Bedeutung der Frauen – von Maria an über Monika bis herauf zu Mutter Teresa – so eminent, dass die Frauen das Bild der Kirche in vielerlei Hinsicht mehr prägen als die Männer. Denken wir nur an große katholische Feiertage wie Fronleichnam oder den Barmherzigkeitssonntag, die auf Frauen zurückgehen. Es gibt in Rom beispielsweise auch eine Kirche, in der auf keinem der Altarbilder auch nur ein einziger Mann zu sehen ist. Praktizierte Homosexualität gilt heute im Westen als eine weitgehend anerkannte Lebensform. Ihre Akzeptanz wird von Modernisten gar als Maßstab für den jeweiligen Fortschrittsgrad einer Gesellschaft propagiert. In dem von Ihnen als Präfekt der Glaubenskongregation verantworteten Katechismus der katholischen Kirche heißt es: „Eine nicht geringe Anzahl von Männern und Frauen haben tiefsitzende homosexuelle Tendenzen … Ihnen ist mit Achtung, Mitleid und Takt zu begegnen. Man hüte sich, sie in irgendeiner Weise ungerecht zurückzusetzen. Auch diese Menschen sind berufen, in ihrem Leben den Willen Gottes zu erfüllen.“ Gleichwohl steht im selben Katechismus: „Gestützt auf die Heilige Schrift, die sie als schlimme Abirrung bezeichnet, hat die kirchliche Überlieferung stets erklärt, dass die homosexuellen Handlungen in sich nicht in Ordnung sind.“ Liegt darin nicht ein gewisser Widerspruch zur oben ausgedrückten Achtung gegenüber Homosexuellen? Nein. Das eine ist, dass sie Menschen mit ihren Problemen und Freuden sind, dass sie als Menschen, auch wenn sie diese Neigung mit sich tragen, Achtung verdienen und nicht deswegen zurückgesetzt werden dürfen. Der Respekt vor dem Menschen ist ganz grundlegend und entscheidend. Aber zugleich ist die innere Sinngebung der Sexualität eine andere. Man könnte, wenn man sich so ausdrücken will, sagen, die Evolution hat die Geschlechtlichkeit zum Zweck der Reproduktion der Art hervorgebracht. Das gilt auch theologisch gesehen. Der Sinn der Sexualität ist, Mann und Frau zueinander zu führen und damit der Menschheit Nachkommenschaft, Kinder, Zukunft zu geben. Das ist die innere Determination, die in ihrem Wesen liegt. Alles andere ist gegen den inneren Sinn von Sexualität. Daran müssen wir festhalten, auch wenn es der Zeit nicht gefällt. Es geht um die innere Wahrheit dessen, was Sexualität im Aufbau des Menschseins bedeutet. Wenn jemand tiefsitzende homosexuelle Neigungen hat – man weiß bislang nicht, ob sie wirklich angeboren sind oder in frühkindlicher Zeit entstehen –, wenn sie jedenfalls in ihm Macht haben, dann ist dies für ihn eine große Prüfung, so wie einen Menschen auch andere Prüfungen belasten können. Aber das bedeutet nicht, dass Homosexualität dadurch moralisch richtig wird, sondern sie bleibt etwas, das gegen das Wesen dessen steht, was Gott ursprünglich gewollt hat. Es ist kein Geheimnis, dass es auch unter Priestern und Mönchen Homosexuelle gibt. Erst kürzlich hat ein Skandal um homosexuelle Leidenschaften von Priestern in Rom großes Aufsehen erregt. Homosexualität ist mit dem Priesterberuf nicht vereinbar. Denn dann hat ja auch der Zölibat als Verzicht keinen Sinn. Es wäre eine große Gefahr, wenn der Zölibat sozusagen zum Anlass würde, Leute, die ohnehin nicht heiraten mögen, ins Priestertum hineinzuführen, weil letztlich auch deren Stellung zu Mann und Frau irgendwie verändert, irritiert ist, und jedenfalls nicht in dieser Schöpfungsrichtung steht, von der wir gesprochen haben. Die Bildungskongregation hat vor einigen Jahren eine Bestimmung erlassen, dass homosexuelle Kandidaten nicht Priester werden können, weil ihre geschlechtliche Orientierung sie von der rechten Vaterschaft, von dem Inneren des Priesterseins distanziert. Die Auslese der Priesterkandidaten muss deshalb sehr sorgsam sein. Hier muss größte Aufmerksamkeit walten, damit eine solche Verwechslung nicht einbricht und am Schluss die Ehelosigkeit der Priester sozusagen mit der Tendenz zur Homosexualität identifiziert würde. Aber zweifellos gibt es in Klöstern, bei Klerikern, wenn vielleicht nicht gelebte, aber dann eben nichtpraktizierte Homosexualität. Das gehört eben auch zu den Nöten der Kirche. Und die Betroffenen müssen zumindest versuchen, diese Neigung nicht aktiv auszuüben, um dem inneren Auftrag ihres Amtes treu zu bleiben. Die katholische Kirche sieht sich als der Ort der einzigartigen Offenbarung Gottes. In ihr komme die Botschaft Gottes zum Ausdruck, die den Menschen zu seiner höchsten Würde, Güte und Schönheit erhebt. Bloß: Das ist heute, gerade auch bei der Vielzahl der Anbieter, die auf diesem Feld gewissermaßen in Konkurrenz treten, immer schwerer zu vermitteln. Sie selbst haben in Lissabon bei einer Begegnung mit Künstlern in Zusammenhang mit dem „Dialog mit der Welt“ von einem „Nebeneinander“ von Wahrheiten gesprochen. Dass wir sagen, Christus ist der Sohn Gottes und in Ihm drückt sich die volle Gegenwart der Wahrheit über Gott aus, das ist die eine Sache. Dass Wahrheiten vielfältiger Art auch in anderen Religionen gegenwärtig sind, dass diese gleichsam Bruchstücke, Lichter aus dem großen Licht haben, dass sie in gewisser Hinsicht auch eine innere Bewegung auf Ihn hin darstellen, das ist die andere Sache. Zu sagen, dass in Christus Gott gegenwärtig ist und uns damit der wahre Gott selbst erscheint und zu uns spricht, schließt nicht aus, dass bei den anderen Religionen auch Wahrheiten sind – aber eben Wahrheiten, die sozusagen auf die Wahrheit verweisen. In dem Sinn ist der Dialog, in dem dieser Verweis sichtbar werden soll, eine innere Folgerung der Situation der Menschheit. 15 Wie geht Erneuerung? Heiliger Vater, die Notwendigkeit einer Reinigung und Erneuerung der Kirche wird niemand bestreiten, erst recht nicht nach den jüngsten Missbrauchsskandalen. Die Frage ist nur: Was genau ist die wirkliche, die richtige Erneuerung? Sie haben in dramatischen Worten deutlich gemacht: Das Schicksal des Glaubens und der Kirche entscheide sich nirgendwo anders als „im Kontext der Liturgie“. Als Außenstehender könnte man denken: Es ist doch eher eine sekundäre Frage, welche Worte bei einer Messe gesprochen werden, welche Haltung man einnimmt und welche Handlungen vollzogen werden? Kirche wird für die Menschen in vielen Dingen sichtbar, in der Caritas, in Missionsprojekten, aber der Ort, wo sie am meisten auch wirklich als Kirche erlebt wird, ist die Liturgie. Und das ist auch richtig so. Schließlich hat Kirche den Sinn, uns Gott zuzuwenden und Gott in die Welt hereinzulassen. Liturgie ist der Akt, in dem wir glauben, dass Er hereintritt und dass wir Ihn berühren. Sie ist der Akt, in dem sich das Eigentliche vollzieht: Wir kommen mit Gott in Berührung. Er kommt zu uns – und wir werden von Ihm erleuchtet. Wir bekommen hier Weisung und Kraft in doppelter Form: Einerseits, indem wir Sein Wort hören, so dass wir Ihn wirklich reden hören, von Ihm Wegweisung empfangen. Andererseits, indem Er selbst sich uns in dem verwandelten Brot schenkt. Natürlich können Wörter immer auch anders sein, können Körperhaltungen anders sein. In der Ostkirche etwa gibt es einige Gebärden, die anders sind als bei uns. In Indien haben dieselben Gebärden, die wir gemeinsam benutzen, teils eine andere Bedeutung. Worauf es ankommt, ist, dass wirklich das Wort Gottes und die Realität des Sakraments im Zentrum stehen; dass Gott nicht von uns zerredet und zerdacht und die Liturgie nicht zu einer Selbstdarstellung wird. Liturgie ist demnach etwas Vorgegebenes? Ja. Nicht wir machen etwas, nicht wir zeigen unsere Kreativität, also all das, was wir so machen könnten. Liturgie ist eben keine Show, kein Theater, kein Spektakel, sondern sie lebt vom Anderen her. Das muss auch deutlich werden. Deshalb ist die Vorgegebenheit der kirchlichen Form so wichtig. Diese Form kann im Einzelnen reformiert werden, aber sie ist nicht jeweils durch die Gemeinde produzierbar. Es geht, wie gesagt, nicht um das Selbstproduzieren. Es geht darum, aus sich heraus und über sich hinauszugehen, sich Ihm zu geben und sich von Ihm anrühren zu lassen. In diesem Sinn ist nicht nur der Ausdruck, sondern auch die Gemeinschaftlichkeit dieser Form wichtig. Sie kann in Riten unterschiedlich sein, aber sie muss immer das haben, was uns aus dem Ganzen des Glaubens der Kirche, aus dem Ganzen ihrer Überlieferung, dem Ganzen ihres Lebens vorausgeht und nicht bloß der augenblicklichen Mode entspringt. Heißt das, in der Passivität verharren zu müssen? Nein. Denn gerade dieser Ansatz fordert uns ja heraus, uns wirklich aus uns, aus der bloßen Situation des Augenblicks herausreißen zu lassen; uns in das Ganze des Glaubens hineinzubegeben, es zu verstehen, innerlich daran Anteil zu nehmen und dem Gottesdienst dann auch die würdige Form zu geben, durch die er schön und zur Freude wird. Das ist ja in Bayern ganz besonders geschehen – etwa durch die große Blüte der Kirchenmusik oder auch das Aufblühen der Freude im bayerischen Rokoko. Es ist wichtig, dass man dem Ganzen auch die schöne Form gibt, aber immer im Dienste dessen, was uns vorausgeht, und nicht als etwas, das wir zunächst erst einmal machen müssten. Was die Heiligkeit der Eucharistie angehe, gebe es keinerlei Spielraum, erklärten Sie. Sie sei der Dreh- und Angelpunkt jeder Erneuerung. Nur von ihrem Geist aus seien geistige Umwälzungen überhaupt möglich. Wenn wahr ist – wie wir das glauben –, dass in der Eucharistie Christus real gegenwärtig ist, ist dies das zentrale Ereignis schlechthin. Nicht nur das Ereignis eines einzelnen Tages, sondern der Weltgeschichte insgesamt, als entscheidende Kraft, von der aus dann Veränderungen kommen können. Wichtig ist, dass in der Eucharistie Wort und reale Gegenwart des Herrn in den Zeichen zusammengehören. Dass wir auch Weisung im Wort bekommen. Dass wir in unserem Gebet antworten, und dass auf diese Weise das Vorangehen Gottes und unser Mitgehen und unser Sich-ändernLassen ineinandergreifen – damit jene Änderung der Menschen geschieht, die die wichtigste Voraussetzung jeder wirklich positiven Änderung der Welt ist. Wenn wir wollen, dass in der Welt etwas vorangeht, dann ist dies nur vom Maßstab Gottes her möglich, der als Realität zu uns hereintritt. In der Eucharistie können Menschen so geformt werden, dass etwas Neues wird. Deshalb sind die großen Gestalten, die wirklich Revolutionen des Guten gebracht haben, die ganze Geschichte hindurch die Heiligen, die, von Christus berührt, neue Impulse in die Welt brachten. Das Konzilsdokument „Lumen gentium“ bezeichnet in Nummer 11 die sonntägliche Teilnahme am eucharistischen Opfer als „Quelle und Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens“. Christus sagt: „Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, hat das ewige Leben.“ Sie haben als Papst begonnen, den Gläubigen die Mundkommunion zu reichen, während diese sich hinknien. Halten Sie dies für die angemessenste Haltung? Zunächst muss man sagen: Es ist wichtig, dass die Zeit eine für alle Gläubigen gemeinsame Struktur hat. Das Alte Testament gibt dies schon vom Schöpfungsbericht her vor, indem es den siebten Tag als den Tag darstellt, an dem Gott ruht und die Menschen mit ihm ruhen. Für die Christen geht diese Zeitstruktur vom Sonntag aus, dem Tag der Auferstehung, an dem Er uns und wir Ihm begegnen. Hier wiederum ist der wichtigste Akt sozusagen der Moment der Vereinigung, da Er sich uns gibt. Ich bin nicht grundsätzlich gegen die Handkommunion, habe sie selbst auch gespendet und empfangen. Damit, dass ich die Kommunion jetzt kniend empfangen lasse und in den Mund gebe, wollte ich aber ein Zeichen der Ehrfurcht und ein Ausrufezeichen für die Realpräsenz setzen. Nicht zuletzt deshalb, weil gerade in Massenveranstaltungen, wie wir sie in Sankt Peter und auf dem Petersplatz haben, die Gefahr der Verflachung groß ist. Ich habe von Leuten gehört, die dann die Kommunion in die Brieftasche stecken, sie als irgendein Souvenir mitnehmen. In diesem Kontext, wo man denkt, es gehört halt einfach dazu, die Kommunion zu empfangen – alle gehen nach vorne, also gehe ich auch –, wollte ich ein klares Zeichen setzen. Es soll deutlich werden: Da ist etwas Besonderes! Hier ist Er da, vor dem man auf die Knie fällt. Achtet darauf! Es ist nicht bloß irgendein sozialer Ritus, an dem wir alle teilnehmen oder auch nicht teilnehmen könnten. Maria ist die Gottesgebärerin. Sie bringt gewissermaßen Gott zur Welt. Zeigt das im übertragenen Sinne, was alle Christen sein sollten: Gottesgebärer? Unser Herr hat einst, als ihm mitgeteilt wurde, „sieh, deine Mutter, deine Brüder und Schwestern sind draußen“, auf die Menschen um sich herum gedeutet und gesagt: „Wer den Willen meines Vaters tut, der ist mir Mutter, Bruder und Schwester.“ Damit gab er auch den Auftrag der Mütterlichkeit an uns weiter, um sozusagen Gottes Geburt in dieser Zeit wieder zu ermöglichen. Für die Kirchenväter war die Gottesgeburt eines der großen Themen. Sie sagten, dass sie einmalig in Bethlehem geschehen ist, aber doch in einer großen, tiefgehenden Weise in jeder neuen Generation immer auch neu geschehen muss und dass jeder Christ dazu gerufen ist. Ist Jesu Anteil an der Befreiung der Frauen, die vom Zugang zur Religion, zu Gott, zur Gesellschaft weitgehend ausgeschlossen waren, nicht genauso hoch einzustufen wie die Öffnung der Offenbarung Gottes zu den Heiden hin? Richtig ist, dass Jesus die Frauen in seine Nähe genommen hat, wie es bis dahin kaum vorstellbar war; dass er nach der Auferstehung eine Frau zur Erstzeugin gemacht hat, dass Frauen also in den innersten Kreis seiner Freunde aufgenommen wurden und damit ein neues Zeichen gesetzt ist. Ich würde im Religionsvergleich vorsichtig sein zu sagen, dass hier schon sofort etwas Explosives erscheint. Es öffnet sich langsam. Aber wichtig ist tatsächlich, wie Sie sagen, dass Jesus zum einen, indem er seine Mutter am Kreuz zur Mutter der Christen macht, zum anderen, indem er einer Frau die Ersterscheinung nach der Auferstehung gewährt, den Frauen eine ganz neue Stellung in der Glaubensgemeinschaft eröffnet hat. Im Westen erlebt die römische Kirche vor allem auch quantitativ einen Umbruch ohnegleichen. In den nächsten zehn Jahren werden beispielsweise in Deutschland ein Drittel der jetzigen Kirchenmitglieder, der Priester und der Ordensleute wegsterben. Von den heute etwa 24.000 weiblichen Ordensmitgliedern sind rund 80 Prozent älter als 65 Jahre. Ähnlich sieht die Altersstruktur bei Mönchen und Priestern aus. Kirchen müssen geschlossen, Gemeinden zusammengelegt werden. Volkskirchliche Elemente werden weiter abschmelzen. Sie selbst haben bereits 1971 darauf hingewiesen, die Kirche werde „klein werden, weithin ganz von vorne anfangen müssen“, sie werde viele der Bauten nicht mehr füllen können, die in der Hochkonjunktur geschaffen wurden und mit der Zahl der Anhänger auch viele ihrer Privilegien in der Gesellschaft verlieren. Die heutige Volkskirche, sagen manche, entspreche inzwischen nur noch einer „Verwaltung des faktischen Unglaubens“. Doch der Maßstab für Kirche könne nicht äußerer Erfolg sein. Denn wenn es vor allem um die Menge der Gläubigen gehe, stehe weniger der Inhalt im Vordergrund, sondern das bloße Dabeisein. Neigt sich die Zeit der Volkskirche dem Ende zu? Das ist, weltweit betrachtet, sehr unterschiedlich. In vielen Teilen der Welt gab es nie eine Volkskirche. In Japan sind die Christen eine kleine Minderheit. In Korea sind sie eine sich ausbreitende, lebendige Kraft, die auch das öffentliche Denken beeinflusst, aber nicht Volkskirche. Auf den Philippinen sind sie Volkskirche, und auch heute ist ein Filipino einfach katholisch – mit Freude und Überschwang. In Indien wiederum sind die Christen eine marginale Minderheit, wenn auch eine gesellschaftlich bedeutende, über deren Rechte wiederum eine indische Gesellschaft streitet, die ihre Identität im Hinduismus erkennt. Die Lage ist, wie gesagt, weltweit sehr verschieden. Richtig ist, dass in der westlichen Welt die Identifikation von Volk und Kirche abschmilzt. Im Osten Deutschlands ist dieser Prozess schon weit fortgeschritten. Dort sind die Ungetauften bereits in der Mehrheit. Und so ist die Zahl der Christen in großen Teilen der westlichen Welt rückläufig. Es gibt allerdings immer noch eine vom Christentum her bestimmte und auch gewollte kulturelle Identität. Ich erinnere mich an einen französischen Politiker, der von sich gesagt hat: „Ich bin protestantischer Atheist.“ Das heißt, ich bin zwar Atheist, aber ich weiß mich kulturell in der Wurzel des Protestantismus verankert. Das macht die Dinge kompliziert. Ja, denn in das große kulturelle Klima vieler westlicher Länder gehört die Herkunft vom Christentum noch hinein. Aber wir gehen immer mehr auf ein Entscheidungschristentum zu. Und von diesem hängt dann ab, wie weit die christliche Generalprägung noch wirksam wird. Ich würde sagen, heute gilt es einerseits, dieses Entscheidungschristentum zu festigen, zu verlebendigen und auszuweiten, so dass mehr Menschen wieder bewusst ihren Glauben leben und bekennen. Andererseits müssen wir anerkennen, dass wir nicht einfach mit der Kultur und der Nation als solcher identisch sind – aber doch die Kraft haben, ihr Werte einzuprägen und vorzugeben, die sie aufnimmt, auch wenn die Mehrheit nicht gläubige Christen sind. 16 Maria und die Botschaft von Fatima Sie gelten im Gegensatz zu Ihrem Vorgänger als ein eher jesuanisch und weniger als ein marianisch ausgerichteter Theologe. Aber schon einen Monat nach Ihrer Wahl riefen Sie die Gläubigen auf dem Petersplatz dazu auf, sich der Muttergottes von Fatima anzuvertrauen. Bei Ihrem Besuch in Fatima im Mai 2010 fanden Sie spektakuläre Worte: Das Geschehen vor 93 Jahren, als sich der Himmel über Portugal auftat, sei „wie ein Fenster der Hoffnung“ zu sehen, das Gott öffnet, „wenn der Mensch ihm die Tür verschließt“. Ausgerechnet der Papst, den die Welt als den Verteidiger der Vernunft kennt, sagt nun: „Die Jungfrau Maria ist vom Himmel gekommen, um uns an Wahrheiten des Evangeliums zu erinnern.“ Es ist richtig, dass ich mit einer primär christozentrischen Frömmigkeit aufgewachsen bin, wie sie sich in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen durch die neue Zuwendung zur Bibel, zu den Vätern, entwickelt hatte; mit einer Frömmigkeit, die bewusst und betont biblisch genährt und eben auf Christus ausgerichtet ist. Aber dazu gehört natürlich immer auch die Mutter Gottes, die Mutter des Herrn. Sie erscheint in der Bibel, bei Lukas und bei Johannes, relativ spät, aber dann doch in großer Helligkeit, und hat insofern immer zum christlichen Leben gehört. In den Ostkirchen hat sie sehr früh wesentliche Bedeutung gewonnen, wenn man etwa an das Konzil von Ephesus im Jahre 431 denkt. Und immer wieder hat Gott sie in der Geschichte hindurch als das Licht benutzt, durch das Er uns zu sich selber hinführt. In Lateinamerika beispielsweise ist Mexiko in dem Augenblick christlich geworden, in dem sich die Madonna zu Guadalupe gezeigt hatte. In diesem Moment begriffen die Menschen: Ja, das ist unser Glaube; da kommen wir wirklich zu Gott; die Mutter zeigt ihn uns; in ihr ist der ganze Reichtum unserer Religionen verwandelt und aufgehoben. Zwei Figuren haben die Menschen in Lateinamerika schließlich glauben lassen: zum einen die Mutter, zum anderen der Gott, der leidet, der auch leidet an allem, was sie selbst an Gewalt erfahren haben. So muss man sagen, es gibt die Geschichte im Glauben. Kardinal Newman hat das herausgestellt. Der Glaube entfaltet sich. Und dazu gehört eben auch das immer stärkere Hereintreten der Mutter Gottes in die Welt als Wegweisung, als Licht von Gott, als die Mutter, durch die wir dann auch den Sohn und den Vater erkennen können. So hat Gott uns Zeichen gegeben, gerade im 20. Jahrhundert. In unserem Rationalismus und gegenüber der Macht der heraufsteigenden Diktaturen zeigt Er uns die Demut der Mutter, die kleinen Kindern erscheint und ihnen das Wesentliche sagt: Glaube, Hoffnung, Liebe, Buße. So verstehe ich auch, dass die Menschen hier sozusagen Fenster finden. Ich habe in Fatima gesehen, wie Hunderttausende von Menschen da waren, die durch das, was Maria kleinen Kindern mitgeteilt hat, in dieser Welt mit ihren ganzen Versperrungen und Verschließungen gewissermaßen wieder den Durchblick auf Gott hin gewinnen. Das berühmte „Dritte Geheimnis von Fatima“ wurde erst im Jahr 2000 veröffentlicht – von Kardinal Joseph Ratzinger auf Anordnung von Johannes Paul II. Der Text spricht von einem in Weiß gekleideten Bischof, der unter den Kugeln von Soldaten zusammenbricht – eine Szene, die als Vorwegnahme des Anschlags auf Johannes Paul II. gedeutet wurde. Nun äußerten Sie: „Wer glaubt, dass die prophetische Mission Fatimas beendet sei, der irrt sich.“ Was ist damit gemeint? Steht die Erfüllung der Botschaft von Fatima in Wahrheit noch aus? Man muss an der Botschaft von Fatima zwei Dinge auseinanderhalten: zum einen ein bestimmtes Ereignis, das in visionären Formen dargestellt ist, zum anderen das Grundlegende, um das es hier geht. Es ging ja nicht darum, eine Neugierde zu befriedigen. Dann hätten wir den Text viel früher veröffentlichen müssen. Nein, es geht darum, einen kritischen Punkt, einen kritischen Augenblick in der Geschichte anzudeuten: nämlich die ganze Macht des Bösen, die sich in diesem 20. Jahrhundert in den großen Diktaturen herauskristallisiert hat – und die, auf andere Weise, auch heute wirksam ist. Zum anderen ging es um die Antwort auf diese Herausforderung. Diese Antwort besteht nicht in großen politischen Aktionen, sondern sie kann letzten Endes nur aus der Verwandlung der Herzen kommen – durch Glaube, Hoffnung, Liebe und Buße. In diesem Sinne ist die Botschaft eben nicht abgeschlossen, auch wenn die beiden großen Diktaturen verschwunden sind. Das Leiden der Kirche bleibt, und die Bedrohung des Menschen bleibt, und damit bleibt auch die Frage nach der Antwort; damit bleibt der Hinweis, den uns Maria gegeben hat. Auch jetzt ist Bedrängnis. Auch jetzt droht die Macht in allen nur möglichen Formen den Glauben niederzutrampeln. Auch jetzt ist daher die Antwort nötig, von der die Mutter Gottes zu den Kindern gesprochen hat. Ihre Predigt am 13. Mai 2010 in Fatima klang nicht wenig dramatisch. „Dem Menschen ist es gelungen, einen Kreislauf des Todes und des Schreckens zu entfesseln“, verkündeten Sie, „den er nicht mehr zu durchbrechen vermag.“ Sie drückten an diesem Tag vor einer halben Million Gläubigen eine Bitte aus, die im Grunde spektakulär ist: „Möge in den sieben Jahren“, hieß es darin, „die uns noch vom hundertsten Jahrestag der Erscheinung trennen, der angekündigte Triumph des Unbefleckten Herzens Mariens zu Ehren der Allerheiligsten Dreifaltigkeit näher kommen.“ Heißt das, der Papst, der ja ein prophetisches Amt innehat, hält es für möglich, dass innerhalb der kommenden sieben Jahre die heilige Mutter Gottes in einer Weise in Erscheinung tritt, die einem Triumph gleicht? Ich habe gesagt, der „Triumph“ wird näher kommen. Das ist inhaltlich das Gleiche, wie wenn wir darum beten, dass das Reich Gottes näher kommt. Dieses Wort war nicht so gemeint – da bin ich vielleicht zu rationalistisch –, als dass ich erwarten würde, dass jetzt eine große Wende geschieht und die Geschichte plötzlich wieder ganz anders verläuft, sondern dass immer wieder die Macht des Bösen aufgehalten wird; dass sich immer wieder in der Stärke der Mutter die Stärke Gottes selber zeigt und sie lebendig hält. Die Kirche ist immer dazu berufen, das zu tun, worum Abraham Gott gebeten hat, nämlich sich zu sorgen, dass es genügend Gerechte gibt, um das Böse und die Zerstörung niederzuhalten. Ich habe das so verstanden, dass die Kräfte des Guten von Neuem wachsen mögen. In diesem Sinne sind die Triumphe Gottes, die Triumphe Marias leise, aber doch wirklich. 17 Jesus Christus kehrt zurück Der Philosoph Robert Spaemann wurde einmal gefragt, ob er, ein international renommierter Wissenschaftler, denn wirklich daran glaube, dass Jesus von einer Jungfrau geboren wurde und Wunder wirkte, dass er vom Tod auferstanden sei und man mit ihm ewiges Leben erhalte. Dies wäre doch ein richtiger Kinderglaube. Der 83-jährige Philosoph antwortete: „Wenn Sie so wollen, gewiss. Ich glaube ungefähr dasselbe, was ich als Kind geglaubt habe – nur dass ich inzwischen mehr darüber nachgedacht habe. Das Nachdenken hat mich am Ende im Glauben immer bestärkt.“ Glaubt auch der Papst immer noch, was er als Kind geglaubt hat? Ich würde das ähnlich sagen. Ich würde sagen: Das Einfache ist das Wahre – und das Wahre ist einfach. Unsere Problematik besteht darin, dass wir vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen; dass wir vor so viel Wissen nicht mehr die Weisheit finden. In dem Sinn hat auch Saint-Exupéry im „Kleinen Prinzen“ die Gescheitheit unserer Zeit ironisiert und gezeigt, wie dabei das Wesentliche übersehen wird und wie der Kleine Prinz, der nichts von all den gescheiten Dingen versteht, letztlich mehr sieht und besser sieht. Worauf kommt es an? Was ist das Eigentliche, das Tragende? Das Einfache sehen, darauf kommt es an. Warum sollte Gott nicht imstande sein, auch einer Jungfrau eine Geburt zu schenken? Warum sollte Christus nicht auferstehen können? Freilich, wenn ich selbst festlege, was sein darf und was nicht, wenn ich die Grenzen des Möglichen bestimme und niemand sonst, dann sind solche Phänomene auszuschließen. Es ist eine Arroganz des Intellekts, dass wir sagen: Das hat etwas Widersprüchliches, Unsinniges in sich, schon deshalb ist es gar nicht möglich. Aber wie viele Möglichkeiten der Kosmos birgt und sich über und in dem Kosmos verbergen – das zu entscheiden, ist nicht unsere Sache. Durch die Botschaft Christi und der Kirche tritt glaubwürdig das Wissen über Gott an uns heran. Gott wollte in diese Welt hereintreten. Gott wollte, dass wir Ihn nicht nur durch die Physik und die Mathematik von der Ferne erahnen. Er wollte sich uns zeigen. Und so konnte Er auch tun, was in den Evangelien berichtet wird. So konnte Er auch in der Auferstehung eine neue Dimension der Existenz schaffen; konnte über die Biosphäre und die Noosphäre hinaus, wie Teilhard de Chardin sagt, eben noch eine neue Sphäre setzen, in der Mensch und Welt mit Gott in Einheit gelangen. Die Wirklichkeit sei so beschaffen, räumte der Kernphysiker Werner Heisenberg ein, dass auch das Unwahrscheinliche grundsätzlich denkbar sei. Das Resümee des Nobelpreisträgers war: „Der erste Schluck aus dem Becher der Naturwissenschaften macht atheistisch – aber auf dem Grund des Bechers wartet Gott.“ Da würde ich ihm völlig Recht geben. Nur solange man von den Einzelerkenntnissen berauscht ist, sagt man: Mehr geht nicht; wir wissen damit alles. In dem Augenblick aber, in dem man die unerhörte Größe des Ganzen erkennt, reicht der Blick weiter und steht die Frage nach einem Gott auf, von dem alles kommt. Eines der herausragenden Ereignisse des bisherigen Pontifikats ist das Erscheinen des ersten Bandes Ihres Jesus-Buches, dem nun der zweite folgen wird. Zum ersten Mal legt damit ein amtierender Papst eine dezidierte theologische Studie über Jesus Christus vor. Auf dem Umschlag allerdings steht als Autorenname Joseph Ratzinger. Es ist eben kein Buch des Lehramts, kein Buch, das ich in meiner päpstlichen Vollmacht geschrieben habe, sondern ein Buch, das ich mir als letztes großes Opus lange vorgenommen und mit dem ich bereits vor meiner Wahl zum Papst begonnen hatte. Ich wollte damit ganz bewusst nicht einen lehramtlichen Akt setzen, sondern in die theologischen Auseinandersetzungen mit eintreten und versuchen, eine Exegese vorzulegen, eine Auslegung der Schrift, die nicht einem positivistischen Historismus folgt, sondern den Glauben als Element der Auslegung mit einbezieht. Das ist natürlich in der gegenwärtigen exegetischen Landschaft ein ungeheures Risiko. Aber wenn Schriftauslegung wirklich Theologie sein will, dann muss es das geben. Und wenn der Glaube uns helfen soll, zu verstehen, dann darf er nicht als Hindernis verstanden werden, sondern als Hilfe, damit wir den Texten, die aus dem Glauben kommen und zu ihm führen wollen, auch näherkommen. Ein Papst wird nicht gewählt, um Bestsellerautor zu werden. Aber muss es Ihnen nicht nachgerade als Fügung erscheinen, dass Sie dieses Buch nun ausgerechnet da vorlegen können, wo Ihnen nach dem kleinen Katheder der Universität die Kathedra Petri als die größte Bühne der Welt zur Verfügung steht? Das überlasse ich dem Lieben Gott. Ich wollte das Buch geben, um Menschen zu helfen. Wenn es aufgrund der Wahl zum Papst noch mehr Menschen helfen kann, freue ich mich natürlich. „Jesus von Nazareth“ ist die Quintessenz eines Mannes, der sich als Priester, Theologe, Bischof, Kardinal und nun als Papst sein ganzes Leben mit der Gestalt Jesu beschäftigt hat. Was war Ihnen besonders wichtig? Eben dass in diesem Menschen Jesus – er ist ja ein wirklicher Mensch – mehr als ein Mensch da ist. Und dass nicht erst im Laufe von weitergehenden Mythisierungen sozusagen das Gottheitliche hinzugefügt worden ist. Nein, schon am Ursprung der Gestalt, in der ersten Überlieferung und Begegnung, erscheint etwas, was alle Erwartungen durchbricht. Ich habe gelegentlich gesagt, am Anfang steht das Besondere; die Jünger müssen es erst langsam rezipieren. Am Anfang steht auch das Kreuz. Die Jünger versuchen zunächst noch, das Ereignis im Kontext des allgemein Zugänglichen zu verstehen. Erst allmählich öffnet sich die ganze Größe Jesu, und sie sehen immer deutlicher, was am Ursprung stand; sehen also die Ursprünglichkeit der Jesusgestalt, von der wir im Credo sprechen: Jesus Christus, den eingeborenen Sohn Gottes, empfangen durch den Heiligen Geist. Was will Jesus von uns? Er will von uns, dass wir Ihm glauben. Dass wir uns von Ihm führen lassen. Dass wir mit Ihm leben. Und so immer mehr Ihm ähnlich und damit richtig werden. Das Ereignis Ihres Werkes ist, dass es einen Paradigmenwechsel markiert, eine Wende in der Betrachtung und im Umgang mit den Evangelien. Die historisch-kritische Methode hatte ihre Verdienste, aber sie hat auch eine verhängnisvolle Fehlentwicklung eingeleitet. Sie hat mit ihrer „Entmythologisierung“ nicht nur zu einer ungeheuren Verflachung und Blindheit gegenüber den Tiefenschichten und den untergründigen Botschaften der Bibel geführt. Heute müssen wir feststellen, dass die vermeintlichen Fakten der Skeptiker, die seit 200 Jahren so gut wie alle Angaben der Bibel relativierten, vielfach nur blanke Hypothesen waren. Müsste man nicht noch deutlicher sagen als bisher, dass hier zum Teil eine Pseudowissenschaft betrieben wurde, die nicht christlich, sondern antichristlich operierte und Millionen von Menschen in die Irre geführt hat? Ich würde nicht ganz so hart urteilen. Die Anwendung der historischen Methode auf die Bibel als einen historischen Text war ein Weg, der gegangen werden musste. Wenn wir glauben, dass Christus wirkliche Geschichte und nicht Mythos ist, muss das Zeugnis von Ihm auch geschichtlich zugänglich sein. Insofern hat die historische Methode uns auch vieles geschenkt. Wir sind wieder näher am Text und seiner Ursprünglichkeit, sehen genauer, wie er gewachsen ist und vieles mehr. Die historisch-kritische Methode wird immer eine Dimension der Auslegung bleiben. Das Vatikanum II hat dies deutlich gemacht, indem es einerseits die wesentlichen Elemente der historischen Methode als notwendigen Teil des Zugangs zur Bibel darstellt, aber gleichzeitig hinzufügt, die Bibel muss in dem Geist gelesen werden, in dem sie geschrieben wurde. Sie muss in ihrer Ganzheit, in ihrer Einheit gelesen werden. Und das ist nur möglich, wenn man sie als ein Buch des Volkes Gottes betrachtet, das voranschreitend auf Christus zugeht. Notwendig ist nicht einfach ein Abbruch, sondern eine Selbstkritik der historischen Methode; eine Selbstkritik der historischen Vernunft, die ihre Grenzen einsieht und die Kompatibilität mit einer Erkenntnis aus dem Glauben heraus erkennt; kurzum: die Synthese zwischen einer rational historischen und einer vom Glauben her geleiteten Auslegung. Wir müssen beides in der richtigen Weise zueinander bringen. Und das entspricht auch dem grundsätzlichen Verhältnis zwischen Glaube und Vernunft. Fest steht: Jesus ist nicht nur durch die Schriften der Evangelien dokumentiert, sondern zudem durch mannigfaltige außerbiblische Quellen. Sie lassen weder Zweifel an seiner historischen Existenz noch an seiner Verehrung als den seit Langem erwarteten Messias zu. Die Autoren der Evangelien haben präzise recherchiert und spannend und wahrhaftig aufgeschrieben, ohne dem Versuch zu erliegen, etwas zu glätten oder zu glorifizieren. Die Details ihres Berichtes stimmen mit den historischen Realitäten überein. Um es deutlich festzuhalten: Es gibt keinen Zweifel mehr daran, dass der historische Jesus und der sogenannte „Jesus des Glaubens“ absolut identische Realitäten sind? Das war sozusagen der Hauptpunkt meines Buches, zu zeigen, dass der geglaubte Jesus wirklich auch der historische Jesus ist und die Figur, wie sie die Evangelien zeigen, viel realistischer und glaubhafter ist als die vielen anderen Jesusgestalten, die uns immer wieder vorgeführt werden. Sie sind nicht nur ohne Fleisch und Blut, sondern auch unrealistisch, weil durch sie nicht erklärbar ist, wie plötzlich ganz schnell etwas ganz anderes da ist, was über alles Gewöhnliche hinausgeht. Natürlich haben Sie da ein ganzes Wespennest von historischen Problemen angestochen. Ich würde da vorsichtiger sein und sagen, Detailuntersuchungen sind weiterhin wichtig und nützlich, auch wenn das Übermaß der Hypothesen allmählich zur Absurdität führt. Klar ist, dass die Evangelien auch von der konkreten Situation der Überlieferungsträger mitbestimmt sind und sich sofort im Glauben inkarnieren. Aber in solche Details können wir hier nicht eintreten. Das Wichtige ist: Realistisch, historisch ist nur der Christus, den die Evangelien glauben; nicht der, den man in den vielen Untersuchungen neu herausdestilliert hat. Die Evangelien wurden nicht zeitfern vom Geschehen aufgezeichnet, wie man lange Zeit dachte, sondern besonders zeitnah. Zudem wurden diese Schriften in beispielloser Texttreue überliefert. Wer heute das Neue Testament liest, liest es, von Unsicherheiten bei der Übersetzung einzelner Wörter und stilistischen Fragen abgesehen, genau so, analysierte der Texthistoriker Ulrich Victor, wie es vor 2000 Jahren aufgeschrieben wurde. Heißt das, dass es eine „Formung“ und damit eine „Um-Formung“ der Botschaft Jesu durch die Urgemeinde oder durch spätere Generationen, wie es von vielen Bibelauslegern behauptet wird, nie gegeben hat? Klar ist erstens: Die Texte sind zeitnah. Wir kommen, vor allem auch durch Paulus, direkt an die Ereignisse heran. Sein Abendmahls- und Auferstehungszeugnis – 1 Korinther 11 und 15 – stammt wörtlich aus den 30er Jahren. Zweitens: Klar und evident ist auch, dass man die Texte ehrfürchtig als heilige Texte behandelt und sie im Gedächtnis und dann in schriftlicher Form fixiert und überliefert hat. Aber richtig ist natürlich auch – wir sehen das im Vergleich der synoptischen Evangelien –, dass zwischen den drei Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas ein und dasselbe in leichten Variationen überliefert wird und auch die Zeit- oder Ereigniskontexte unterschiedlich fixiert sind. Das heißt, dass von den Überlieferungsträgern doch auch eine Beziehung zum Verstehen der jeweiligen Gemeinde hergestellt worden ist, in der dann das Bleibende des Vergangenen schon erscheint. Insofern muss man darauf achten, dass es nicht um protokollartige Notizen ging, die sozusagen einfach nur Fotografien sein sollten. Es ging um sorgfältige Treue, aber Treue, die schon mitlebt und formt, ohne dabei allerdings das Wesentliche zu beeinflussen. Der Theologe Joseph Ratzinger weist mit bestechenden Fakten und bestechender Logik nach: Jesus ist der, der alle Vollmacht hat, der Herr über das All, Gott selbst, der Mensch geworden ist. Die Erscheinung Jesu hat die Welt verändert, wie sie noch nie verändert wurde. Sie ist der größte Einschnitt und Umbruch der Menschheitsgeschichte. Und dennoch wird es immer einen Rest an Zweifel geben. Vielleicht auch, weil der Akt der Inkarnation Gottes in einem Menschen unser Fassungsvermögen ganz einfach übersteigt? Ja, da ist Ihnen völlig Recht zu geben. Es ist einfach der Freiheit des menschlichen Entscheidens und Ja-Sagens Raum gelassen. Gott zwingt sich nicht auf, etwa in der Art, wie ich feststellen kann: Hier auf dem Tisch ist ein Glas; es ist da! Sein Dasein ist eine Begegnung, die bis ins Innerste und Tiefste des Menschen hinabreicht, die aber nie auf die Greifbarkeit einer bloß materiellen Sache reduziert werden kann. Deshalb ist von der Größe des Geschehens her klar, dass Glaube immer ein Geschehen in Freiheit ist. Dieses Geschehen birgt in sich die Gewissheit, dass es sich hier um etwas Wahres, um Wirklichkeit handelt – aber es schließt umgekehrt auch die Möglichkeit der Leugnung nie ganz aus. Muss die Beschäftigung mit Leben und Lehre Christi nicht immer auch eine Anfrage an die Kirche sein? Muss es einem da, gerade wenn man sich auch als Autor noch einmal ganz neu in diese Geschichte hineinbegibt, nicht auch schummerig werden, wie weit die Kirche immer wieder von dem Weg abgewichen ist, den ihr der Sohn Gottes gewiesen hat? Tja, das haben wir ja gerade in dieser Zeit der Skandale erlebt, dass es einem wirklich schummerig wird darüber, wie armselig die Kirche ist und wie sehr ihre Mitglieder in der Nachfolge Jesu Christi versagen. Das ist das eine, was wir zu unserer Demütigung, zu unserer wirklichen Demut erfahren müssen. Das andere ist, dass Er sie trotzdem nicht loslässt. Dass Er sie trotz der Schwachheit der Menschen, in denen sie sich darstellt, hält, in ihr die Heiligen erweckt und durch sie da ist. Ich glaube, diese beiden Empfindungen gehören zusammen: Die Erschütterung über die Armseligkeit, die Sündigkeit in der Kirche – und die Erschütterung darüber, dass er dieses Werkzeug nicht loslässt, sondern damit wirkt; dass er sich durch die Kirche und in ihr immer wieder zeigt. Jesus bringt nicht nur eine Botschaft, er ist auch der Heiland, der Heiler, der „Christus medicus“, wie es ein altes Wort ausdrückt. Ist es in dieser vielfach so kaputten, unheilen Gesellschaft, über die wir in diesem Interview viel gesprochen haben, nicht gerade auch die vordringliche Aufgabe der Kirche, speziell das Heilsangebot des Evangeliums deutlich zu machen? Jesus machte seine Jünger immerhin stark genug, dass sie neben der Verkündung auch Dämonen austreiben und heilen konnten. Ja, das ist entscheidend. Die Kirche legt den Menschen nicht irgendetwas auf und bietet nicht irgendein Moralsystem dar. Wirklich entscheidend ist, dass sie Ihn gibt. Dass sie die Türen zu Gott aufmacht und damit den Menschen das gibt, was sie am meisten erwarten, was sie am meisten brauchen, und was ihnen auch am meisten helfen kann. Sie tut es vor allen Dingen durch das große Wunder der Liebe, das immer wieder geschieht. Wenn Menschen – ohne einen Profit zu haben, ohne das als Job machen zu müssen – von Christus motiviert anderen beistehen und ihnen helfen. Dieser, wie Eugen Biser sagt, therapeutische Charakter des Christentums, der heilende und schenkende, müsste in der Tat viel deutlicher in Erscheinung treten. Ein großes Problem für Christen ist das Ausgesetztsein in einer Welt, die im Grunde ein Dauerbombardement gegen die alternativen Werte christlicher Kultur liefert. Ist es nicht eigentlich unmöglich, dieser Art weltweiter Propaganda für negatives Verhalten ganz zu widerstehen? Tatsächlich brauchen wir gewissermaßen Inseln, wo der Glaube an Gott und die innere Einfachheit des Christentums lebt und ausstrahlt; Oasen, Archen Noahs, in die der Mensch immer wieder fliehen kann. Schutzräume sind die Räume der Liturgie. Aber auch in den unterschiedlichen Gemeinschaften und Bewegungen, in den Pfarreien, in den Feiern der Sakramente, in den Übungen der Frömmigkeit, in den Wallfahrten und so weiter versucht die Kirche, Abwehrkräfte zu geben und dann auch Schutzräume zu entwickeln, in denen im Gegensatz zu dem Kaputten um uns herum auch wieder die Schönheit der Welt und des Lebendürfens sichtbar wird. 18 Von den Letzten Dingen Jesus hat seinen Jüngern nicht das Schwert empfohlen, aber er hat ihnen eine andere Ausrüstung gegeben: „Ich sende euch den Geist“, versprach er. Ist damit ein Zugang zu einem Denken verbunden, das über das Gewöhnliche hinausführt? Eine Art spirituelle Intelligenz, die wir heute ganz neu entdecken könnten? Man darf es sich natürlich nicht zu mechanisch vorstellen. Nicht so, dass da zu unserer gewöhnlichen Existenz sozusagen noch ein weiteres Stockwerk dazukommt. Aber in dem Sinne, dass der innere Kontakt mit Gott durch, mit und in Christus in uns wirklich neue Möglichkeiten eröffnet und unser Herz und unseren Geist weiter macht, gibt der Glaube unserem Leben in der Tat eine weitere Dimension. Das wäre vielleicht so etwas wie ein Meta-Net, unendlich schneller als das Internet, in jedem Fall aber freier, wahrer und positiver. Was ja mit „Communio Sanctorum“ ausgedrückt wurde: dass wir alle irgendwie in einer tieferen Verbindung stehen und uns, auch wenn wir uns nie gesehen haben, erkennen, weil der gleiche Geist, der gleiche Herr in uns wirkt. In Ihrer Rede in Lissabon erklärten Sie, ein vorrangiger Auftrag der Kirche bestehe heute darin, die Menschen fähig zu machen, „über die vorletzten Dinge hinauszublicken – und nach den letzten zu suchen“. Die Lehre von den „Letzten Dingen“ ist ein zentrales Glaubensgut. Sie behandelt Themen wie Hölle, Fegefeuer, Antichrist, Verfolgung der Kirche in der Endzeit, Wiederkunft Christi und Letztes Gericht. Warum herrscht in der Verkündigung ein so auffallendes Schweigen zu eschatologischen Themen, die doch im Gegensatz zu manchen kircheninternen „Dauerbrennern“ tatsächlich von existentieller Natur sind und jedermann angehen? Das ist eine ganz ernste Frage. Unsere Predigt, unsere Verkündigung ist wirklich einseitig weitgehend auf die Gestaltung einer besseren Welt ausgerichtet, während die wirklich bessere Welt kaum noch erwähnt wird. Hier müssen wir eine Gewissenserforschung machen. Natürlich versucht man, den Hörern entgegenzukommen, ihnen das zu sagen, was in ihrem Horizont liegt. Aber unsere Aufgabe ist gleichzeitig, diesen Horizont aufzusprengen, zu weiten und auf das Letzte hinzuschauen. Diese Dinge sind ein hartes Brot für die Menschen von heute. Sie erscheinen ihnen irreal. Sie möchten stattdessen konkrete Antworten für jetzt, für die Drangsal des Alltags. Aber diese Antworten bleiben halb, wenn sie nicht auch fühlen und inwendig erkennen lassen, dass ich über dieses materielle Leben hinausreiche, dass es das Gericht gibt, und dass es die Gnade gibt und die Ewigkeit. Insofern müssen wir auch neue Worte und Weisen finden, um den Menschen den Durchbruch durch die Schallmauer der Endlichkeit zu ermöglichen. Alle Prophezeiungen Jesu sind wahr geworden, nur eine steht noch aus: die seiner Wiederkehr. Erst ihre Erfüllung macht das Wort von der „Erlösung“ ganz wahr. Sie haben den Begriff vom „eschatologischen Realismus“ geprägt. Was heißt das genau? Es heißt, dass diese Dinge nicht Fata Morgana und irgendwie erfundene Utopien sind, sondern dass sie exakt die Realität treffen. Wir müssen uns in der Tat immer auch gegenwärtig halten, dass Er uns mit der größten Gewissheit sagt: Ich komme wieder. Dieses Wort steht über allem. Deshalb wird die Messe auch ursprünglich nach Osten gefeiert, zum wiederkommenden Herrn hin, der in der aufgehenden Sonne symbolisiert ist. Jede Messe ist deshalb das Entgegengehen auf den Kommenden. Auf diese Weise wird dieses Kommen auch gleichsam antizipiert; wir gehen auf Ihn zu – und jetzt schon, antizipierend, kommt Er. Ich vergleiche das gern mit der Geschichte von der Hochzeit zu Kana. Hier sagt der Herr zunächst zu Maria: „Meine Stunde ist noch nicht da.“ Dann gibt er aber doch den neuen Wein und antizipiert sozusagen seine Stunde, die erst kommen wird. In der Eucharistie ist dieser eschatologische Realismus vergegenwärtigt: Wir gehen Ihm entgegen – als dem Kommenden – und Er kommt und antizipiert diese Stunde, die einmal ihre Endgültigkeit haben wird, schon jetzt. Wir sollten das so auffassen, dass wir dem immer schon kommenden Herrn entgegengehen, in sein Kommen hinein – und uns damit in die größere Wirklichkeit hineinfügen lassen, eben über die Alltäglichkeit hinaus. Die von Johannes Paul II. heiliggesprochene Ordensschwester Faustyna Kowalska vernahm vor rund 80 Jahren die Worte Jesu in einer Vision: „Du wirst die Welt auf Meine endgültige Wiederkunft vorbereiten.“ Muss man das ernst nehmen? Wenn man es chronologisch auffasste, uns jetzt sozusagen unmittelbar auf die Wiederkunft zu rüsten, wäre es falsch. Wenn man es in dem eben dargestellten spirituellen Sinn begreift, dass der Herr immer der Kommende ist und dass wir uns dabei immer auch auf das endgültige Kommen vorbereiten, gerade wenn wir auf Sein Erbarmen zugehen und uns selbst von Ihm formen lassen, dann ist es richtig. Sich formen lassen von der Erbarmung Gottes als Gegenmacht gegen die Erbarmungslosigkeit der Welt – das ist sozusagen die Vorbereitung dafür, dass Er selbst kommt und Seine Erbarmung. Ich möchte da noch einmal nachfassen. Im einzigen prophetischen Buch des Neuen Testaments, der „Geheimen Offenbarung des Johannes“, der Apokalypse, die als Frohbotschaft verstanden wird, ist alles auf das zweite Erscheinen Christi ausgerichtet. Schon die biblischen Schriftgelehrten und die Mönche und Astronomen der Zeit Jesu hatten sich mit der Berechnung des Zeitpunktes für das Kommen des Messias beschäftigt. Der deutsche Wissenschaftler Rüdiger Holinski glaubt nun herausgefunden zu haben, dass es sich bei den in der Apokalypse genannten Sendschreiben an die sieben Gemeinden nicht um sieben Orte handelt, sondern um Chiffren für die nacheinander folgenden kirchengeschichtlichen Epochen. So stehe der Name der siebten und letzten Gemeinde, Laodizea (übersetzt: Recht des Volkes), für ein allgemeines Aufbegehren und den Drang nach Mitwirkung. Das parallele „siebte Siegel“ stehe für eine Epoche, die gekennzeichnet sei von Ängsten, Depressionen, falschen Kirchenlehrern und neuen Religionen, eine Zeit, in der die Werke weder kalt noch heiß seien. Wie auch immer, die Welt ist heute gefährdet wie kaum zuvor. In vielen Bereichen hat, wie wir das hier auch behandelt haben, die Verwüstung unseres Heimatplaneten den point of no return erreicht. Die Situation des Glaubens ist von dramatischen Veränderungen betroffen. Glaubensbewusstsein versiegt, Kirchen müssen geschlossen werden, eine antichristliche Meinungsdiktatur wirkt nicht mehr nur subtil, sondern offen aggressiv. Hinzu kommt, dass der Mensch nunmehr das letzte biblische Tabu angreift, den „Baum des Lebens“, die Manipulation und Herstellung des Lebens selbst. Hat diese Situation Sie veranlasst, in Ihrem Jesusbuch darauf hinzuweisen, man müsste insbesondere auch die Gerichtsworte Jesu auf unsere gegenwärtige Situation anwenden? Ich bin gegenüber solchen Auslegungen skeptisch. Die Apokalypse ist ein geheimnisvolles Buch und hat viele Dimensionen. Ob aber das, was der Ausleger sagt, auch eine Dimension davon ist, würde ich offen lassen. Die Apokalpyse gibt jedenfalls kein Schema einer zeitlichen Berechenbarkeit. Auffallend ist darin ja gerade, dass dann, wenn man glaubt, jetzt sei es eigentlich zu Ende, das Ganze wieder von vorn beginnt. Das heißt, die Apokalypse spiegelt geheimnisvoll das Weitergehen der Bedrängnisse, ohne uns zugleich zu sagen, wann und wie genau eine Antwort kommt und wann und wie der Herr sich uns zeigt. Sie ist kein Buch, das sich für chronologische Berechnungen eignet. Wichtig ist, dass jede Zeit sich der Nähe des Herrn stellt. Dass gerade auch wir, hier und heute, unter dem Gericht des Herrn stehen und von seinem Gericht her uns richten lassen. Der heilige Bernhard von Clairvaux hat, während man bis dahin von einem zweimaligen Kommen Christi sprach – einmal in Bethlehem, das zweite Mal am Ende der Zeit –, von einem „adventus medius“ gesprochen, von einem mittleren Kommen, durch das Er periodisch immer wieder in die Geschichte hereintritt. Ich glaube, damit hat er die richtige Tonart getroffen. Wir können nicht festlegen, wann die Welt zu Ende geht. Christus selbst sagt, niemand weiß es, nicht einmal der Sohn. Wir müssen aber immer sozusagen in der Nähe seines Kommens stehen – und vor allem in den Bedrängnissen sicher sein, dass Er nahe ist. Zugleich sollten wir bei unseren eigenen Taten wissen, dass wir unter dem Gericht stehen. Wir wissen nicht, wann es sein wird, aber wir wissen dem Evangelium zufolge, dass es sein wird. „Wenn der Menschensohn kommt und alle Engel mit ihm“, so heißt es bei Matthäus, „dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen.“ Er werde die Menschheit scheiden, so wie ein Hirte die Schafe von den Böcken scheidet. Den einen werde Er sagen: „Nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist.“ Den anderen aber: „Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer.“ Die Eindeutigkeit der Warnungen wird bei Johannes noch unterstrichen: „Ich bin das Licht, das in die Welt gekommen ist, damit jeder, der an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibt.“ Es gibt noch viele weitere solcher Gerichtsworte. Sind diese Dinge nur symbolisch gemeint? Natürlich nicht. Es ist ein wirkliches letztes Gericht, das da gehalten wird. Als ein, sagen wir, vorletztes Gericht kommt dieses Gericht ja immer auch bereits im Tod auf den Menschen zu. Das große Szenario, das vor allem Matthäus 25 entwirft, mit den Schafen und den Böcken, ist ein Gleichnis für das Unvorstellbare. Wir können uns ja diesen unerhörten Vorgang nicht vorstellen; dass nun der ganze Kosmos vor dem Herrn steht, die ganze Geschichte vor Ihm steht. Es muss in Bildern ausgedrückt werden, in denen wir es ahnen können. Wie das optisch aussehen wird, entzieht sich unserer Vorstellungskraft. Aber dass Er der Richter ist, dass ein wirkliches Gericht stattfindet, dass die Menschheit geschieden wird und dass dann eben auch die Möglichkeit der Verwerfung besteht, dass die Dinge nicht gleichgültig sind, das ist sehr wichtig. Heute tendieren die Leute dazu, zu sagen, na ja, so schlimm wird das alles schon nicht kommen. Am Schluss kann Gott wohl kaum so sein. Nein, Er nimmt uns ernst. Und es gibt die Tatsache der Existenz des Bösen, das bleibt und verurteilt werden muss. Insofern sollten wir mit aller freudigen Dankbarkeit, dass Gott so gut ist und uns begnadet, doch auch den Ernst des Bösen, das wir im Nazismus und im Kommunismus gesehen haben und das wir auch heute rundherum sehen, wahrnehmen und in unser Lebensprogramm einschreiben. Vor 14 Jahren fragte ich Sie, ob es sich überhaupt noch lohnt, auf dieses schon ein wenig altersschwach erscheinende Schiff Kirche aufzusteigen. Heute muss man fragen, ob dieses Schiff nicht mehr und mehr einer Arche Noah ähnelt. Was meint der Papst? Können wir uns aus eigener Kraft auf diesem Planeten überhaupt noch retten? Aus eigener Kraft kann der Mensch ohnedies die Geschichte nicht bewältigen. Dass der Mensch gefährdet ist und sich und die Welt gefährdet, wird heute gleichsam auch durch wissenschaftliche Belege sichtbar. Er kann nur gerettet werden, wenn in seinem Herzen die moralischen Kräfte wachsen; Kräfte, die nur aus der Begegnung mit Gott kommen können; Kräfte, die Widerstand leisten. Insofern brauchen wir Ihn, den Anderen, der uns hilft, das zu sein, was wir selbst nicht vermögen; und brauchen wir Christus, der uns zu einer Gemeinschaft versammelt, die wir Kirche nennen. Nach dem Johannesevangelium sagt Jesus an entscheidender Stelle, es gehe um den Auftrag des Vaters: „Und ich weiß, dass sein Auftrag ewiges Leben ist.“ Ist es das, warum Jesus in die Welt gekommen ist? Zweifellos. Darum geht es. Dass wir gottfähig werden und so in das eigentliche, in das ewige Leben hineinkommen können. Er ist in der Tat gekommen, damit wir die Wahrheit kennenlernen. Damit wir Gott berühren können. Damit uns die Tür offen steht. Damit wir das Leben finden, das wirkliche Leben, das nicht mehr dem Tod unterworfen ist. ANHANG Schwere Sünde gegen schutzlose Kinder Aus dem Hirtenbrief vom 19. 3. 2010 an die Katholiken Irlands Ich kann nur die Bestürzung und das Gefühl des Vertrauensbruchs teilen, die so viele von euch verspürten, als sie von diesen sündhaften und kriminellen Taten erfahren haben und davon, wie die kirchlichen Autoritäten in Irland damit umgegangen sind. … Zugleich muss ich aber auch meine Überzeugung zum Ausdruck bringen, dass die Kirche in Irland, um von dieser tiefen Wunde zu genesen, die schwere Sünde gegen schutzlose Kinder vor Gott und vor anderen offen zugeben muss. Ein solches Eingeständnis, das von aufrichtiger Reue über die Verletzung dieser Opfer und ihrer Familien begleitet ist, muss zu einer gemeinsamen Anstrengung führen, um in Zukunft den Schutz von Kindern vor ähnlichen Verbrechen zu gewährleisten. … Nur durch sorgfältige Prüfung der vielen Faktoren, die zum Entstehen der augenblicklichen Krise geführt haben, kann eine klare Diagnose ihrer Gründe unternommen und können wirkungsvolle Gegenmaßnahmen gefunden werden. Zu den beitragenden Faktoren sind sicherlich zu zählen: unangemessene Verfahren zur Feststellung der Eignung von Kandidaten für das Priesteramt und das Ordensleben; nicht ausreichende menschliche, moralische, intellektuelle und geistliche Ausbildung in Seminaren und Noviziaten; eine gesellschaftliche Tendenz, den Klerus und andere Autoritäten zu begünstigen; sowie eine unangebrachte Sorge um den Ruf der Kirche und die Vermeidung von Skandalen, die zum Versagen in der Anwendung bestehender kanonischer Strafen und im Schutz der Würde jeder Person geführt hat. … An die Opfer des Missbrauchs und ihre Familien: Ihr habt schrecklich gelitten, und das tut mir aufrichtig leid. Ich weiß, dass nichts das von euch Erlittene ungeschehen machen kann. Euer Vertrauen wurde missbraucht und eure Würde wurde verletzt. Viele von euch mussten erfahren, dass euch niemand zugehört hat, als ihr den Mut gefunden habt, über das zu sprechen, was euch zugestoßen ist. Diejenigen von euch, die in Heimen und Internaten missbraucht wurden, müssen gefühlt haben, dass es kein Entkommen aus eurem Leid gab. Es ist verständlich, dass es schwer für euch ist, zu vergeben oder sich mit der Kirche zu versöhnen. Im Namen der Kirche drücke ich offen die Scham und die Reue aus, die wir alle empfinden. … An die Priester und Ordensleute, die Kinder missbraucht haben: Ihr habt das Vertrauen, das von unschuldigen jungen Menschen und ihren Familien in euch gesetzt wurde, missbraucht, und ihr müsst euch vor dem allmächtigen Gott und vor den zuständigen Gerichten dafür verantworten. Ihr habt die Achtung der Menschen Irlands verspielt und Schande und Unehre auf eure Mitbrüder gebracht. Die Priester unter euch haben die Heiligkeit des Weihesakraments verletzt, in dem Christus sich selbst in uns und unseren Handlungen vergegenwärtigt. Mit dem immensen Leid, das ihr den Opfern angetan habt, wurde auch der Kirche und der öffentlichen Wahrnehmung des Priestertums und des Ordenslebens großer Schaden zugefügt. Ich mahne euch, euer Gewissen zu erforschen, Verantwortung für die begangenen Sünden zu übernehmen und demütig euer Bedauern auszudrücken. … Gebt offen zu, dass ihr schuldig seid. Stellt euch den Forderungen der Rechtsprechung, aber zweifelt nicht an der Barmherzigkeit Gottes. An meine Mitbrüder im Bischofsamt: Es kann nicht geleugnet werden, dass einige von euch und von euren Vorgängern bei der Anwendung der seit langem bestehenden Vorschriften des Kirchenrechts zu sexuellem Missbrauch von Kindern bisweilen furchtbar versagt haben. Schwere Fehler sind bei der Aufarbeitung von Vorwürfen gemacht worden. Ich erkenne an, wie schwierig es war, die Komplexität und das Ausmaß des Problems zu erfassen, gesicherte Informationen zu erlangen und die richtigen Entscheidungen bei widersprüchlichen Expertenmeinungen zu treffen. Dennoch muss zugegeben werden, dass schwerwiegende Fehlurteile getroffen wurden und dass Versagen in der Leitung vorkamen. Dies alles hat eure Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit untergraben. … Ich rufe euch auf, neben der vollständigen Umsetzung der Normen des Kirchenrechts im Umgang mit Fällen von Kindesmissbrauch weiter mit den staatlichen Behörden in ihrem Zuständigkeitsbereich zusammenzuarbeiten. … Nur entschiedenes Vorgehen, das in vollkommener Ehrlichkeit und Transparenz erfolgt, wird den Respekt und das Wohlwollen des irischen Volks gegenüber der Kirche, der wir unser Leben geweiht haben, wiederherstellen. Glaube und Gewalt Aus der „Regensburger Rede“ vom 12. 9. 2006 Ohne sich auf Einzelheiten wie die unterschiedliche Behandlung von „Schriftbesitzern“ und „Ungläubigen“ einzulassen, wendet er sich in erstaunlich schroffer, für uns unannehmbar schroffer Form ganz einfach mit der zentralen Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gewalt überhaupt an seinen Gesprächspartner. Er sagt: „Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat, und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, dass er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten.“ Der Kaiser begründet, nachdem er so zugeschlagen hat, dann eingehend, warum Glaubensvertreibung durch Gewalt widersinnig ist. Sie steht im Widerspruch zum Wesen Gottes und zum Wesen der Seele. „Gott hat kein Gefallen am Blut“, sagt er, „und nicht vernunftgemäß – nicht ‚syn logo‘ – zu handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider. Der Glaube ist Frucht der Seele, nicht des Körpers. Wer also jemanden zum Glauben führen will, braucht die Fähigkeit zur guten Rede und ein rechtes Denken, nicht aber Gewalt und Drohung …“ Aids und Humanisierung der Sexualität Aus dem Interview während des Fluges nach Kamerun am 17. 3. 2009 Pater Lombardi: Jetzt erteilen wir erneut einer französischen Stimme das Wort, unserem Kollegen Philippe Visseyrias von „France 2“. Frage: Heiligkeit, unter den vielen Übeln, die Afrika heimsuchen, ist insbesondere auch das der Verbreitung von Aids. Die Position der katholischen Kirche in Bezug auf die Art und Weise, dagegen anzukämpfen, wird oft als unrealistisch und unwirksam betrachtet. Werden Sie auf Ihrer Reise über dieses Thema sprechen? Benedikt XVI.: Ich würde das Gegenteil behaupten. Ich denke, dass die wirksamste, am meisten präsente Realität im Kampf gegen Aids gerade die katholische Kirche mit ihren Bewegungen und verschiedenen Strukturen ist. Ich denke an die Gemeinschaft Sant’Egidio, die im Kampf gegen Aids so viel tut – sichtbar und auch im Verborgenen –, ich denke an die Kamillianer, an viele andere Dinge, an all die Ordensschwestern, die sich um die Kranken kümmern … Ich würde sagen, dass man das Aidsproblem nicht nur mit Geld lösen kann, das zwar auch notwendig ist. Aber wenn die Seele nicht beteiligt ist, wenn die Afrikaner nicht mithelfen (indem sie eigene Verantwortung übernehmen), kann man es mit der Verteilung von Präservativen nicht bewältigen. Im Gegenteil, sie vergrößern das Problem. Die Lösung kann nur in einem zweifachen Bemühen gefunden werden: erstens in einer Humanisierung der Sexualität, das heißt in einer spirituellen und menschlichen Erneuerung, die eine neue Verhaltensweise im gegenseitigen Umgang mit sich bringt; und zweitens in einer wahren Freundschaft auch und vor allem zu den Leidenden, in einer Verfügbarkeit, auch mit Opfern und persönlichem Verzicht an der Seite der Leidenden zu sein. Das sind die Faktoren, die helfen und sichtbare Fortschritte bringen. Deshalb würde ich sagen, es geht um diese unsere doppelte Kraft, einmal den Menschen von innen her zu erneuern, ihm spirituelle und menschliche Kraft zu geben für ein rechtes Verhalten zu seinem eigenen Leib und dem des anderen, und dann diese Fähigkeit mit den Leidenden zu leiden, in Situationen innerer Prüfung präsent zu bleiben. Mir scheint das die richtige Antwort zu sein, und die Kirche tut dies und leistet so einen sehr großen und wichtigen Beitrag. Danken wir all denen, die dies tun. Benedikt XVI. Lebenslauf und kurze Chronik des Pontifikats Biographie bis zur Papstwahl 1927–1937 Geboren als Joseph Alois Ratzinger am Karsamstag, 16. April 1927, um 4.15 Uhr in Marktl am Inn, Landkreis Altötting. Die Eltern sind der Gendarmeriemeister Joseph Ratzinger (* 6. März 1877; † 25. August 1959) und die Bäckerstochter Maria Ratzinger (* 8. Januar 1884, † 16. Dezember 1963). Joseph ist das dritte und letzte Kind der Eheleute, nach Maria Theogona (* 7. Dezember 1921, † 2. November 1991) und Georg (* 15. Januar 1924). Im Juli 1929 Umzug der Familie nach Tittmoning, im Dezember 1932 nach Aschau am Inn, wo er eingeschult wird. Ab 1937 wohnt die Familie in Hufschlag bei Traunstein. 1937–1945 1937: Aufnahme in das Gymnasium Traunstein; 1939: Eintritt in das Erzbischöfliche Studienseminar St. Michael in Traunstein; 1943–1945: Kriegsdienst als Flakhelfer, im Arbeitsdienst und als Infanteriesoldat; Mai bis Juni 1945 amerikanische Kriegsgefangenschaft in Neu-Ulm. 1945 Abitur am ChiemgauGymnasium in Traunstein. 1945–1951 Dezember 1945 bis Sommer 1947: Studium der Philosophie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Freising bei München. Anschließend Theologiestudium an der Universität München. Spätherbst 1950 bis Juni 1951: Alumnat in Freising zur Vorbereitung auf die Priesterweihe. 1951–1953 Priesterweihe am 29. Juni 1951 in Freising gemeinsam mit seinem Bruder Georg durch Michael Kardinal Faulhaber. Juli 1951: Aushilfspriester in München-Moosach (Pfarrei St. Martin). Ab 1. August 1951: Kaplan in München-Bogenhausen (Pfarrei Hl. Blut). Oktober 1952 bis Sommer 1954: Dozent am Freisinger Priesterseminar; Mithilfe in den Freisinger Kirchen. Juli 1953: Promotion an der Universität München (Thema: „Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche“). 1954–1959 Ab Wintersemester 1954/55: Dozent für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Freising. 1957: Habilitation an der Universität München im Fach Fundamentaltheologie mit dem Thema: „Die Geschichtstheologie des heiligen Bonaventura“. 1958– 1959: außerordentlicher Professor für Dogmatik und Fundamentaltheologie in Freising. 1959–1963 Ordinarius für Fundamentaltheologie an der Universität Bonn. Thema der Antrittsvorlesung: „Der Gott des Glaubens und der Gott der Philosophen“. 1962–1965 Berater des Kölner Kardinals Joseph Frings und offizieller Konzilstheologe (Peritus) auf dem Zweiten Vatikanum. Mitglied der Glaubenskommission der deutschen Bischöfe und der Internationalen päpstlichen Theologenkommission in Rom. 1963–1966 Ordinarius für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Universität Münster (Antrittsvorlesung: „Offenbarung und Überlieferung“). 1966–1969 Ordinarius für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Universität Tübingen. 1968 erscheint seine „Einführung in das Christentum“. 1969–1977 Ordinarius für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Universität Regensburg. 1972 gemeinsam mit Hans Urs von Balthasar, Henri de Lubac und anderen Gründung der Internationalen katholischen Zeitschrift „Communio“; 1976/1977 Vizepräsident der Universität Regensburg. 1977–1982 25. März 1977: Ernennung zum Erzbischof von München und Freising durch Papst Paul VI., Bischofsweihe am 28. Mai. Sein Bischofsmotto lautet: „Cooperatores veritatis – Mitarbeiter der Wahrheit“ (nach dem dritten Johannes-Brief, 3 Joh 8). 27. Juni 1977: Ernennung zum Kardinal. Engagement als Honorarprofessor der Universität Regensburg. 1978: Das Jahr der drei Päpste. Nach dem Tod von Paul VI. (6. August) Teilnahme am Konklave mit der Wahl von Albino Luciani zum Papst Johannes Paul I.; nach dem Tod Lucianis (28. September) Teilnahme am Konklave, aus dem am 16. Oktober Karol Wojtyła, der Erzbischof von Krakau, als Papst Johannes Paul II. hervorgeht, dessen Wahl Ratzinger maßgeblich unterstützt hat. Wojtyła ist der erste Nichtitaliener auf dem Stuhl Petri seit 1523. 1981–2005 25. November 1981: Ernennung zum Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre und damit auch zum Präsidenten der Päpstlichen Bibelkommission und der Internationalen Theologenkommission durch Papst Johannes Paul II. (Amtsantritt in Rom und Abschied von München im März 1982). 1986–1992: Leiter der Päpstlichen Kommission zur Erstellung des „Katechismus der Katholischen Kirche“ (der am 12. Dezember 1992 präsentiert wird). 1991: Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. 1992: Wahl zum Mitglied der Académie des Sciences Morales et Politiques de l’Institut de France, Paris. 1993: Erhebung zum Kardinalbischof der suburbikarischen Diözese Velletri-Segni. 1998: Öffnung des Archivs der ehemaligen Inquisitionsbehörde auf Veranlassung Ratzingers; Wahl zum Vizedekan des Kardinalskollegiums; Ernennung zum Kommandeur der Ehrenlegion durch den französischen Staatspräsidenten. 1999: Ratzinger unterzeichnet die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ zwischen katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund, die er federführend vorangetrieben hatte. 2000: Veröffentlichung der „Erklärung ‚Dominus Iesus‘ über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche“; seit 13. November 2000 Ehrenmitglied der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften. 2001: Ratzinger zieht angesichts zahlreichen Kindesmissbrauchs durch Kleriker und mangelhaften Umgangs damit durch die kirchlichen Autoritäten die Zuständigkeit an die Glaubenskongregation und beginnt mit der Aufarbeitung von 3000 Fällen; es folgen Ausführungsregeln im Vatikan (2001) und in Deutschland (2002). 2002: Wahl zum Dekan des Kardinalskollegiums mit dem suburbikarischen Sitz Ostia; Teilnahme am Weltgebetstreffen in Assisi. Weitere Aufgaben in der römischen Kurie in dieser Zeit: Mitglied des Rates des Staatssekretariates für die Beziehungen zu den Staaten; der Kongregationen für die Ostkirchen, für Kult und Sakramentendisziplin, für die Bischöfe, für die Evangelisierung der Völker, für die katholische Erziehung, für den Klerus und für die Heiligsprechungen; Mitglied der Päpstlichen Räte zur Förderung der Einheit der Christen und der Kultur; Mitglied des Obersten Gerichtes der Päpstlichen Signatur; Mitglied der Päpstlichen Kommission für Lateinamerika; der „Ecclesia Dei“; der Kommission für die authentische Interpretation des Codex des kanonischen Rechts und der Kommission für die Revision des Codex des Östlichen kanonischen Rechts. Ehrendoktorate: College of St. Thomas in St. Paul, USA (1984), katholische Universität Lima (1986), katholische Universität Eichstätt (1987), katholische Universität Lublin (1988), Universität Navarra in Pamplona (1998), Freie Universität „Maria Santissima Assunta (LUMSA)“ in Rom (1999), Universität Breslau (2000). Kurze Chronik des Pontifikats 2005 2. April Tod von Johannes Paul II. 8. April Als Dekan des Kardinalskollegiums leitet Kardinal Ratzinger die Begräbnisfeierlichkeiten für den verstorbenen Papst sowie das nachfolgende Konklave. Die Totenmesse für Johannes Paul II. ist mit bis zu fünf Millionen Teilnehmern die vermutlich größte religiöse Veranstaltung in der Geschichte der Menschheit. 18. April Beginn des Konklaves mit Einzug der 115 wahlberechtigten Kardinäle in die Sixtinische Kapelle; Eröffnungsrede Ratzingers über den „Relativismus“. 19. April Aus einem mit 26 Stunden besonders kurzen Konklave geht Joseph Ratzinger als 265. Papst in der Geschichte der römisch-katholischen Kirche hervor. Der neue Pontifex gibt sich den Namen Benedikt, in Anlehnung an den Ordensgründer Benedikt von Nursia, aber auch an seinen Namensvorgänger Benedikt XV., der aufgrund seiner Friedensinitiativen im Ersten Weltkrieg als „Friedenspapst“ bezeichnet wurde. Als erster Papst der Neuzeit verzichtet Benedikt XVI. im Wappen auf die Tiara, Zeichen auch für die weltliche Macht der Kirche, und ersetzt sie durch eine schlichte Mitra (Bischofsmütze). Andererseits wird in ein Papstwappen erstmals ein Pallium (Schulterband der Metropolitanbischöfe) aufgenommen. 24. April Heilige Messe zur Amtseinführung auf dem Petersplatz unter Beteiligung von 500.000 Pilgern und Würdenträgern. Benedikt trägt das Pallium nach orthodoxer Art – Ausdruck der Sympathie und Hinweis auf die Phase vor dem morgenländischen Schisma von 1054, als die Kirche des Ostens und des Westens noch unter den Nachfolgern Petri vereint war. 29. Mai Pastoralbesuch in Bari zum Abschluss des italienischen Nationalen Eucharistischen Kongresses. Benedikt XVI. unterstreicht die zentrale Bedeutung des Sonntags und der Eucharistie: „Ohne Sonntag können wir nicht leben.“ 9. Juni Treffen mit Vertretern des Internationalen Jüdischen Komitees für interreligiöse Konsultationen.1 16. Juni Treffen mit dem Generalsekretär des Ökumenischen Rats der Kirchen, Rev. Dr. Samuel Kobia. 24. Juni Staatsbesuch beim italienischen Staatspräsidenten Carlo Ciampi im Quirinalspalast in Rom. Der Besuch wurde bereits von Johannes Paul II. geplant und sollte, nach 20-jähriger Entfremdung, der Annäherung zwischen Vatikan und italienischem Staat dienen. 28. Juni Motu Proprio zur Approbation und Veröffentlichung des Kompendiums des Katechismus der Katholischen Kirche.2 30. Juni Treffen mit der Delegation des Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios I. anlässlich des Pontifikatsbeginns. 18.–21. August Apostolische Reise nach Köln. Anlass ist der 20. Weltjugendtag. 19. August: Besuch der Kölner Synagoge. Es ist der erste päpstliche Besuch eines jüdischen Gotteshauses in Deutschland. 21. August: Abschlussmesse des Weltjugendtages in Köln mit über einer Million Jugendlichen. 20. September Benedikt XVI. gibt als erster Papst überhaupt ein Fernsehinterview für den polnischen Sender TVP. 24. September Vierstündiges Gespräch mit dem Tübinger Theologen und Kirchenkritiker Hans Küng, dem von Johannes Paul II. 1979 die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen wurde. 2.–23. Oktober Ordentliche Generalversammlung der XI. Weltbischofssynode mit dem Thema „Die Eucharistie. Quelle und Höhepunkt des Lebens und der Sendung der Kirche“. Erstmals auf einer Bischofssynode beteiligt sich ein Papst an der Aussprache. Benedikt XVI. führt zudem die freie Debatte ein, um in „heilsamer Unruhe“ kontrovers zu diskutieren. 7. November Treffen mit dem Präsidenten des Lutherischen Weltbundes, Bischof Mark Hanson. 17. November Treffen mit dem israelischen Staatspräsidenten Moshe Katzav, der Papst Benedikt zu einem Besuch im Heiligen Land einlädt. 3. Dezember Treffen mit dem Chef der palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, der eine Einladung zum Besuch Palästinas ausspricht. 25. Dezember Erste Enzyklika: „Deus caritas est“ („Gott ist die Liebe“), in der Papst Benedikt die Liebe als die zentrale Dimension des Christentums beschreibt. 2006 18. Februar Veröffentlichung des „Päpstlichen Jahrbuches 2006“, in dem die Ehrenbezeichnung „Patriarch des Abendlandes“ erstmals nicht mehr unter den offiziellen Titeln des Papstes auftaucht. Die Streichung des Titels ist eine ökumenische Geste gegenüber der Orthodoxie. 11. März Reform der Kurie durch die Zusammenlegung der Leitung des „Päpstlichen Rates der Seelsorge für die Migranten und Menschen unterwegs“ und des „Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden“ sowie die Zusammenlegung der Leitung des „Päpstlichen Rates für den Interreligiösen Dialog“ und des „Päpstlichen Rates für die Kultur“. 20. Mai Treffen mit dem russisch-orthodoxen Metropoliten Kyrill. 25.–28. Mai Apostolische Reise nach Polen. 26. Mai: Besuch des Heiligtums von Jasna Góra im polnischen Tschenstochau. 27. Mai: Besuch des Geburtshauses Johannes Pauls II. in Wadowice; Treffen mit 600.000 Jugendlichen in Krakau. 28. Mai: Messe mit 1,2 Millionen Menschen in Krakau; Besuch des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau. Der Programmpunkt war zunächst nicht geplant, Benedikt bestand allerdings auf diesem Besuch: „Ich konnte als Papst unmöglich nicht hierherkommen.“ 3. Juni Messfeier mit 350.000 Mitgliedern neuer geistlicher Gemeinschaften auf dem Petersplatz. 8.– 9. Juli Apostolische Reise nach Valencia (Spanien). Anlass ist das 5. Weltfamilientreffen: „Die Familie ist ein notwendiges Gut für die Völker, ein unverzichtbares Fundament für die Gesellschaft und ein großer Schatz für die Eheleute während ihres ganzen Lebens“ (Ansprache am 8. Juli). 1. September Pilgerreise zum Heiligtum des „Heiligen Antlitzes“ von Manoppello (Italien). 9.–14. September Apostolische Reise nach Bayern. Mit Stationen in München, Altötting, Marktl (Geburtsort des Papstes), Regensburg und Freising. 12. September: Wissenschaftliche Vorlesung an der Universität Regensburg. Eine darin zitierte Aussage des spätmittelalterlichen byzantinischen Kaisers Manuel II. Palaiologos zur Rolle der Gewalt im Islam führt weltweit zu organisierten muslimischen Protesten, bei denen auch Kirchen geschändet werden und eine Ordensfrau ums Leben kommt. 15. September Nach dem altersbedingten Rücktritt von Angelo Sodano Ernennung von Tarcisio Bertone zum neuen Kardinal-Staatssekretär. 19. Oktober Besuch in Verona anlässlich des IV. Nationalkongresses der italienischen Kirche. 28. November – 1. Dezember Apostolische Reise in die Türkei. 28. November: Treffen mit dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoǧan. 29. November: Treffen mit dem Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios I., dem Ehrenoberhaupt aller Orthodoxen. 30. November: Gemeinsame Feier des Andreasfestes mit Patriarch Bartholomaios und Unterzeichnung einer gemeinsamen Erklärung zur Annäherung von Katholiken und Orthodoxen; Treffen mit dem armenischen Patriarchen Mesrob II. Mutafyan; Besuch der Sultan-Ahmed-Moschee in Istanbul – der zweite päpstliche Besuch eines islamischen Gotteshauses überhaupt. 13. Dezember Treffen mit dem israelischen Ministerpräsidenten Ehud Olmert zu einem Gespräch über die Lage im Nahen Osten und im Libanon. 15. Dezember Treffen mit dem Patriarchen der Kopten, Antonios Naguib. 16. Dezember Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel vor dem G-8-Gipfel in Heiligendamm, in dem der Papst den Schuldenerlass für die ärmsten Länder einfordert. 2007 25. Januar Treffen mit dem Ministerpräsidenten Vietnams, Nguyen Tan Dung. Es ist der erste Besuch eines vietnamesischen Regierungschefs im Vatikan seit der kommunistischen Machtübernahme 1975. 22. Februar Nachsynodales Apostolisches Schreiben „Sacramentum Caritatis“ über die Eucharistie als Quelle und Höhepunkt von Leben und Sendung der Kirche. 13. März Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Im Mittelpunkt des Gesprächs stehen die Beziehungen der katholischen und der russisch-orthodoxen Kirche sowie die Situation im Nahen Osten. 20. März Treffen mit dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-moon. 24. März Treffen mit 80.000 Mitgliedern und Anhängern der kirchlichen Bewegung „Comunione e Liberazione“ auf dem Petersplatz. 16. April Veröffentlichung von Band I des Buches „Jesus von Nazareth“ am 80. Geburtstag des Papstes. 21.–22. April Pastoralbesuch in Vigevano in der Lombardei, der einzigen italienischen Diözese, die Johannes Paul II. während seiner fast 27 Amtsjahre nicht besucht hatte, und Pavia, wo Papst Benedikt zum Grab des heiligen Augustinus pilgert. 4. Mai Treffen mit dem EKD-Ratsvorsitzenden Bischof Wolfgang Huber. 9.–14. Mai Apostolische Reise nach Brasilien. 9. Mai: Benedikt XVI. nennt Lateinamerika den „Kontinent der Hoffnung“. 10. Mai: Treffen mit Präsident Luiz Inácio Lula da Silva in São Paulo. 12. Mai: Auf eigenen Wunsch besucht der Papst die „Fazenda da Esperança“, ein Projekt zur Reintegration vor allem drogenabhängig gewordener Jugendlicher. 13. Mai: Eröffnung der 5. Generalkonferenz des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik in Aparecida. 23. Mai: In der Generalaudienz spricht der Papst von seiner Reise nach Lateinamerika und benennt dabei auch „nicht zu rechtfertigende Verbrechen“ bei der Kolonisierung und Christianisierung des Kontinents. 27. Mai Brief an die Katholiken Chinas, in dem Papst Benedikt die in zwei Lager gespaltenen 12 Millionen Gläubigen aufruft, sich unter seiner Führung zusammenzuschließen, und die Regierung in Peking auffordert, die diplomatischen Beziehungen zum Vatikan wieder aufzunehmen. 9. Juni US-Präsident George W. Bush spricht mit Papst Benedikt XVI. über die Lage im Nahen und Mittleren Osten. 11. Juni Motu Proprio „De aliquibus mutationibus in normis de electione Romani Pontificis“ über einige Änderungen in den Normen bezüglich der Wahl des Papstes. Darin wird festgelegt, dass in einem Konklave auch nach dem 33. Wahlgang eine Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich ist und nicht mehr, wie bisher, dann eine einfache Mehrheit genügt. 17. Juni Pastoralbesuch in Assisi anlässlich des 800. Jahrestages der Bekehrung des heiligen Franziskus. 21. Juni Treffen mit dem assyrischen Patriarchen Mar Dinkha IV. 25. Juni Trennung der Leitung des „Päpstlichen Rates für den Interreligiösen Dialog“ und des „Päpstlichen Rates für die Kultur“. 7. Juli Motu Proprio „Summorum Pontificum“ über die römische Liturgie in ihrer Gestalt vor der 1970 durchgeführten Reform. Danach wird neben der Normalform (forma ordinaria) des Römischen Ritus auch wieder die bis zum Konzil geltende sogenannte tridentinische Messe als außerordentliche Form (forma extraordinaria) zur Feier in den Gemeinden zugelassen, ohne dass es hierfür wie bisher die Erlaubnis des zuständigen Bischofs bräuchte. 1.–2. September Pastoralbesuch in Loreto anlässlich der „Agora“, eines Treffens mit mehreren hunderttausend italienischen Jugendlichen als nationaler Auftakt für den Weltjugendtag in Sydney. 6. September Treffen mit dem israelischen Ministerpräsidenten Shimon Peres. 7.– 9. September Apostolische Reise nach Österreich. Anlass ist das 850. Gründungsjubiläum des Wallfahrtsortes Mariazell. In Wien spricht der Papst einmal mehr über die Kultur des Sonntags. 23. September Pastoralbesuch in Velletri (Italien), wo Joseph Ratzinger vor seiner Wahl zum Papst für zwölf Jahre Titularbischof war. 8. Oktober Treffen mit dem Leiter des Jüdischen Weltkongresses, Ronald Lauder. 19. Oktober Erstes offizielles Treffen eines Papstes mit Vertretern der Mennoniten in der Geschichte. 21. Oktober Pastoralbesuch in Neapel. Anlass ist das 21. Internationale interreligiöse Friedenstreffen, an dem unter anderen der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel, Bartholomaios I., der anglikanische Erzbischof von Canterbury, Rowan Williams, der EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber, der israelische Oberrabbiner Yona Metzger, und der Rektor der Al-Azhar-Universität in Ägypten, Ahmad Al-Tayyeb, teilnehmen. 6. November Treffen mit dem saudi-arabischen König Abdullah, dem Hüter der heiligen Stätten des Islam. Es ist die erste Audienz eines saudischen Monarchen bei einem Oberhaupt der katholischen Kirche. 30. November Zweite Enzyklika „Spe salvi“ („Auf Hoffnung hin gerettet“) über die christliche Hoffnung auch über den Tod hinaus. 6. Dezember Treffen mit Vertretern der Baptistischen Weltallianz. 7. Dezember Treffen mit dem Leiter des Außenamts der russisch-orthodoxen Kirche, Metropolit Kyrill, der später zum Patriarchen seiner Kirche berufen werden wird. 2008 5. Februar Änderung der Karfreitags-Fürbitte „für die Juden“ im Rahmen der tridentinischen Messe in eine theologisch angepasste Fassung. 6. März Treffen mit dem Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel, Bartholomaios I. 15.–21. April Apostolische Reise in die Vereinigten Staaten von Amerika und zu den Vereinten Nationen. 16. April: Treffen mit US-Präsident George W. Bush im Weißen Haus. 17. April: Erstmals trifft sich ein Papst mit Männern und Frauen, die von katholischen Priestern sexuell missbraucht wurden; Veröffentlichung der Botschaft vom 14. April an die weltweite jüdische Gemeinschaft zum Pessach-Fest. 18. April: Ansprache vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York. Im Mittelpunkt steht die Achtung der Menschenrechte; Besuch der Park-East-Synagoge in Manhattan. 20. April: Gebet für die Opfer der Terroranschläge des 11. September 2001 am Ground Zero. 16. April Botschaft des Papstes im russischen Fernsehen. 2. Mai Treffen mit einer Delegation schiitischer Muslime aus dem Iran. Der Heilige Stuhl und iranische Theologen hatten sich zuvor auf eine gemeinsame Erklärung zum Thema „Glaube und Vernunft im Christentum und im Islam“ geeinigt. Danach gibt es Übereinkunft darin, dass Glaube und Vernunft „von sich aus gewaltlos“ seien und niemals für Gewalttätigkeit benutzt werden sollten. 5. Mai Treffen mit dem Primas der Anglikaner, Erzbischof Rowan Williams von Canterbury. 8. Mai Treffen mit dem griechisch-melkitischen Patriarchen von Antiochien, Gregorios III. Laham. 9. Mai Ökumenische Feier mit dem Oberpatriarchen und Katholikos aller Armenier, Karekin II. 17.–18. Mai Pastoralbesuch in Savona und Genua. 13. Juni Treffen mit US-Präsident George W. Bush. 14.–15. Juni Pastoralbesuch in Santa Maria di Leuca und Brindisi. 21. Juni Apostolisches Schreiben „Antiqua ordinatione“. Das Motu Proprio betrifft die Gerichtsordnung der Apostolischen Signatur. Es wird ausschließlich in lateinischer Sprache veröffentlicht. 28./29. Juni Gemeinsame Eröffnung des Paulusjahres mit dem Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios I. 12.–21. Juli Apostolische Reise nach Sydney. Anlass ist der 23. Weltjugendtag. 17. Juli: Treffen mit australischen Regierungsvertretern. 19. Juli: Heilige Messe in Saint Mary’s Cathedral in Sydney, in der Papst Benedikt für den sexuellen Missbrauch von Kindern durch katholische Geistliche in Australien um Entschuldigung bittet. Er gesteht die Scham ein, „die wir alle empfunden haben aufgrund des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen durch einige Kleriker und Ordensleute in diesem Land. Ich bedauere wirklich zutiefst den Schmerz und das Leid, die die Opfer ertragen mussten, und ich versichere ihnen, dass ich als ihr Hirte ihr Leid mitfühle.“ 20. Juli: Abschlussmesse in Sydney. Vor rund 500.000 Menschen ruft Papst Benedikt XVI. zu einer Erneuerung von Gesellschaft und Kirche auf und ermutigt vor allem die Jugendlichen aus aller Welt, verantwortlich mit der Schöpfung und den Ressourcen der Erde umzugehen. 21. Juli: Treffen mit Männern und Frauen, die in jungen Jahren von Priestern sexuell missbraucht wurden. 7. September Pastoralbesuch in Cagliari zum Abschluss der 100-Jahr-Feier der Ausrufung „Unserer Lieben Frau von Bonaria“ zur Patronin Sardiniens. 12.–15. September Apostolische Reise nach Frankreich. 12. September: Treffen mit Präsident Nicolas Sarkozy in Paris. 14. September: Heilige Messe in Lourdes mit etwa 100.000 Gläubigen zum Jubiläum der Marienerscheinungen vor 150 Jahren. Papst Benedikt ruft die Katholiken zur Erneuerung des missionarischen Geistes auf: „Indem der Mensch sich Gott zuwendet, findet er zu sich selbst.“ 4. Oktober Staatsbesuch beim italienischen Präsidenten Giorgio Napolitano im Quirinalspalast. 5.–26. Oktober Ordentliche Generalversammlung der XII. Weltbischofssynode mit dem Thema „Das Wort Gottes im Leben und in der Mission der Kirche“. Der Papst beteiligt sich persönlich mit einem Redebeitrag über die Auslegung der Bibel. 19. Oktober Pastoralbesuch im Heiligtum der Seligen Jungfrau Maria vom Rosenkranz in Pompeji. 6. November Begegnung mit den Teilnehmern des ersten katholisch-islamischen Dialogtreffens, dessen Ziel der Abbau von Spannungen zwischen beiden Religionen ist. 9. November Benedikt XVI. gedenkt in Rom öffentlich des 70. Jahrestages des Beginns der Judenpogrome in Deutschland („Reichskristallnacht“) und ruft zu „tiefer Solidarität mit der jüdischen Welt“ und zum Gebet für die Opfer auf. Es sei die Pflicht jedes Einzelnen, auf allen Ebenen gegen jede Form des Antisemitismus und der Diskriminierung einzutreten. 13. November Treffen mit dem brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva. Im Mittelpunkt des Gesprächs steht die Frage nach einer Verbesserung der Lebensbedingungen gesellschaftlich ausgegrenzter Bevölkerungsschichten. 2009 21. Januar Dekret zur Aufhebung der Exkommunikation von vier durch Erzbischof Marcel Lefebvre im Jahr 1988 ohne Mandat des Heiligen Stuhls geweihten Bischöfen der Bruderschaft St. Pius X. Zu diesen zählt auch Richard Williamson, von dem nun ein bisher unveröffentlichtes Interview bekannt wird, in dem er die Gaskammern der Nazis leugnet. 28. Januar Bei der Generalaudienz gibt der Papst eine Erklärung zum in den Medien skandalisierten Fall Williamson ab, in der er seine „volle und unbestreitbare Solidarität“ mit den Juden zum Ausdruck bringt. 12. Februar Treffen mit den Leitern der „Conference of Presidents of Major American Jewish Organizations“, bei dem Benedikt XVI. den Antisemitismus verurteilt und jeder Leugnung des Holocausts eine klare Absage erteilt. 10. März Brief an die Bischöfe der katholischen Kirche, in dem der Papst auf Missverständnisse und Diskussionen im Zusammenhang mit der Exkommunikation der vier Bischöfe der Pius-Bruderschaft eingeht und Pannen in der Medienarbeit des Vatikans einräumt. 17.–23. März Apostolische Reise nach Kamerun und Angola. Ziel der Reise ist, dem von Kriegen, Krankheit und Hunger gequälten Kontinent eine Botschaft der Hoffnung und Versöhnung zu bringen und von der Weltgemeinschaft Gerechtigkeit für Afrika zu verlangen. Die Äußerung Papst Benedikts, das Aids-Problem lasse sich mit Kondomen allein nicht lösen, stößt auf Kritik in der Weltpresse. 28. April Besuch des vom Erdbeben betroffenen Gebiets in den Abruzzen. 8.–15. Mai Apostolische Reise ins Heilige Land. 8. Mai: Treffen mit dem jordanischen König Abdullah im Al-Husseinye-Palast von Amman. 9. Mai: Besuch der byzantinischen Basilika der Moses-Gedenkstätte auf dem Berg Nebo; Begegnung mit muslimischen Religionsführern. 10. Mai: Besuch der Taufstelle Jesu im Jordan. 11. Mai: Besuch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, zusammen mit dem israelischen Staatspräsidenten Shimon Peres. In seiner Rede erklärt Papst Benedikt zur Ermordung von sechs Millionen Juden in der NS-Zeit: „Mögen die Namen dieser Opfer niemals vergehen! Möge ihr Leid nie geleugnet, herabgesetzt oder vergessen werden!“ 12. Mai: Als erster Papst in der Geschichte besucht Benedikt XVI. den muslimischen Felsendom auf dem Tempelberg; Treffen mit dem Großmufti von Jerusalem, Muhammad Ahmad Hussein; Gebet an der Klagemauer. 13. Mai: Treffen mit Palästinenserpräsident Mahmud Abbas in Bethlehem. 14. Mai: Treffen mit Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in Nazareth. Heilige Messe und Besuch der Verkündigungsgrotte in Nazareth. 15. Mai: Besuch der Grabeskirche in Jerusalem. 24. Mai Pastoralbesuch in Cassino und Montecassino, der Stammabtei seines Namenspatrons und Patrons Europas, des heiligen Benedikt. 19. Juni Beginn des von Benedikt XVI. ausgerufenen „Priesterjahres“. 21. Juni Pastoralbesuch in San Giovanni Rotondo, der Wallfahrtsstätte zum 1968 gestorbenen und 2002 heiliggesprochenen Kapuziner-Ordensmann Padre Pio. 29. Juni Dritte Enzyklika, die Sozialenzyklika „Caritas in veritate“ („Die Liebe in der Wahrheit“) über die Folgen der Globalisierung, der Wirtschafts- und Finanzkrise und über eine gerechtere, sozialere und ökologischere Wirtschaftsordnung. 2. Juli Apostolisches Schreiben in Form eines Motu Proprio „Ecclesiae unitatem“, mit dem die Päpstliche Kommission „Ecclesia Dei“ – samt ihrer Zuständigkeit für die Beziehungen zu den traditionalistischen Katholiken wie etwa der Priesterbruderschaft St. Pius X. – in die Kongregation für die Glaubenslehre eingegliedert wird. 7. Juli Apostolisches Schreiben in Form eines Motu Proprio zur Approbation des neuen Statuts des Arbeitsamtes des Hl. Stuhls. 9. Juli Treffen mit dem australischen Ministerpräsidenten Kevin Rudd. Treffen mit dem südkoreanischen Staatspräsidenten Lee Myung-bak zum Gespräch über die Folgen der Weltwirtschaftskrise für die ärmsten Länder und über die politische und soziale Lage der koreanischen Halbinsel. 10. Juli Treffen mit US-Präsident Barack Obama. Im Mittelpunkt der Privataudienz stehen die Weltwirtschaftskrise, die Situation im Nahen Osten, die Entwicklungspolitik in Afrika und Südamerika sowie die internationale Bekämpfung des Drogenhandels. Erörtert werden zudem Stammzellenforschung, Bioethik und die Problematik von Abtreibung. 17. Juli Kleiner chirurgischer Eingriff an der rechten Hand, nachdem sich der Papst während seines Sommerurlaubs im Aostatal bei einem Sturz das Handgelenk gebrochen hatte. 6. September Pastoralbesuch in Viterbo und Bagnoregio. In Viterbo fand das längste Konklave der Kirchengeschichte statt (1005 Tage), in Bagnoregio wird die einzige Reliquie des heiligen Bonaventura aufbewahrt. 26.–28. September Apostolische Reise in die Tschechische Republik. Ziel des Besuches 20 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist die Ermutigung der Minderheit an Gläubigen und die Erinnerung an die christlichen Wurzeln der Kultur dieses weitgehend atheistisch gewordenen Landes. 4.–25. Oktober Zweite Sonderversammlung der Bischofssynode für Afrika. 26. Oktober Apostolisches Schreiben in Form eines Motu Proprio „Omnium in mentem“ zur Änderung einiger Normen des Codex des Kanonischen Rechts. 4. November Apostolische Konstitution „Anglicanorum coetibus“ über die Errichtung von Personalordinariaten für Anglikaner, die in die volle Gemeinschaft mit der katholischen Kirche eintreten. 8. November Pastoralbesuch in Concesio und Brescia, der Heimat von Papst Paul VI. 14. November Treffen mit dem tschechischen Premier Jan Fischer zum EU-Vertrag von Lissabon. 21. November Treffen mit dem Erzbischof von Canterbury, Rowan Williams, dem Primas der Anglikanischen Kirche. Im Zentrum des Gesprächs stehen die Herausforderungen der christlichen Gemeinschaft zu Beginn des dritten Jahrtausends. 3. Dezember Treffen mit dem russischen Staatschef Dmitri Medwedew; Bekanntgabe der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen dem Vatikan und dem Kreml. 2010 1. Januar Aufruf zur ökologischen Wende: „Willst du den Frieden fördern, so bewahre die Schöpfung.“ 15. Januar Brief des Leiters des katholischen Canisius-Kollegs, Pater Klaus Mertes, an 600 Absolventen des Jesuitengymnasiums in Berlin, in dem er bei Opfern von Missbräuchen durch Jesuiten an der Berliner Schule während der 70er- und 80er-Jahre um Entschuldigung bittet. Die Veröffentlichung dieses Briefes löst die Aufdeckung weiterer Fälle in anderen kirchlichen und nichtkirchlichen Einrichtungen aus. 17. Januar Besuch des Papstes in der Synagoge von Rom. 15./16. Februar Treffen mit 24 irischen Bischöfen zur Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche Irlands. Der Papst moniert schwere Verfehlungen der Bischöfe. 12. März Treffen mit Robert Zollitsch, dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, anlässlich der zahlreichen Missbrauchsfälle in Deutschland. 14. März Besuch der deutschsprachigen evangelisch-lutherischen Gemeinde in Rom, Predigt im Gottesdienst. 19. März Hirtenbrief an die Katholiken in Irland, in dem Benedikt XVI. für die Missbrauchsfälle an katholischen Einrichtungen und für das Versagen der Bischöfe um Verzeihung bittet und über Irland hinaus Vorgaben für die Aufklärung der Fälle und die Aufarbeitung der krisenhaften Situation macht. 17.–18. April Apostolische Reise nach Malta. Anlass ist die Landung des Apostels Paulus auf der Insel vor 1950 Jahren. Benedikt XVI. trifft sich bei seinem Besuch auch mit maltesischen Missbrauchsopfern. 1. Mai Nach Abschluss der von ihm angeordneten Visitation der „Legionäre Christi“ verlangt der Papst eine umfassende geistliche und strukturelle Erneuerung des Ordens. 2. Mai Pastoralbesuch in Turin anlässlich der Ausstellung des „Sindone“, des heiligen Grabtuches Christi. 11.–14. Mai Apostolische Reise nach Portugal. Anlass ist der zehnte Jahrestag der Seligsprechung der Hirtenkinder von Fatima, Jacinta und Francisco. 13. Mai: Heilige Messe im Heiligtum von Fatima: „Ich bin nach Fatima gekommen, um mit Maria und so vielen Pilgern für unsere Menschheit zu beten, die von Leid und Not geplagt wird.“ 20. Mai Konzert im Vatikan unter Mitwirkung des Russischen Nationalorchesters und des Synodalen Chores von Moskau zu Ehren des fünften Jahrestags des Pontifikats Benedikts. Das Konzert ist ein Geschenk des Patriarchen von Moskau, Kyrill I., und gilt als Zeichen der Annäherung der russisch-orthodoxen und der katholischen Kirche. 31. Mai Entsendung von fünf hochrangigen Sonderermittlern nach Irland zur Aufarbeitung des Missbrauchsskandals. 4.– 6. Juni Apostolische Reise nach Zypern. 5. Juni: Treffen mit dem orthodoxen Kirchenoberhaupt Chrysostomos II. 6. Juni: Übergabe des Instrumentum Laboris für die bevorstehende Sonderversammlung der Bischofssynode für den Nahen Osten. 10./11. Juni Teilnahme am vermutlich größten Priestertreffen der Geschichte zum Abschluss des Priesterjahres. 26. Juni Treffen mit dem scheidenden Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes, Ishmael Noko. 29. Juni Ankündigung der Einrichtung des „Päpstlichen Rates zur Förderung der Neuevangelisierung“ für nachchristentümliche Gesellschaften. 4. Juli Pastoralbesuch in Sulmona in den Abruzzen anlässlich des 800. Geburtstags von Papst Coelestin V., der nach einem halben Jahr als Papst von seinem Amt zurückgetreten war. 2. September Treffen mit dem israelischen Staatspräsidenten, Shimon Peres, zum Gespräch über den Friedensprozess im Nahen Osten. Unter Benedikt XVI, so Peres, seien die Beziehungen zwischen dem Vatikan und Israel „die besten seit den Zeiten Jesu Christi“. 5. September Besuch in Carpetino Romano, wo vor 200 Jahren Papst Leo XIII. geboren wurde, der mit der kirchlichen Soziallehre auf die Industrielle Revolution antwortete. 16.–19. September Apostolische Reise nach England und Schottland; der erste Staatsbesuch eines Papstes in Großbritannien. 16. September: Treffen mit Königin Elizabeth II., dem Oberhaupt der anglikanischen Kirche, in Edinburgh. 17. September: Ökumenische Feier in Westminster Abbey, London. 19. September: Die Seligsprechung des Konvertiten und Kardinals John Henry Newman in Birmingham ist die erste Seligsprechungsmesse auf englischem Boden überhaupt. 3. Oktober Begegnung mit Familien und Jugendlichen in Palermo, Sizilien. 10.–24. Oktober Sonderversammlung der Bischofssynode zur Lage der Christen im Nahen Osten. 6.–7. November Pastoralreise nach Spanien. 6. November: Besuch in Santiago de Compostela aus Anlass des Jakobusjahres. 7. November: Altarweihe in der Kirche „La Sagrada Familia“ in Barcelona. Der Papst empfängt Woche für Woche eine Vielzahl von Präsidenten und Regierungsmitgliedern. In dieser Chronik können aus Platzgründen jedoch nur einige besondere Treffen aufgeführt werden. Unerwähnt bleiben muss auch die Vielzahl von Begegnungen mit Priestern, Theologen, Bischöfen bei Ad-Limina-Besuchen, Empfängen für Diplomaten, Selig- und Heiligsprechungen, Ansprachen, Botschaften, Schreiben, liturgische Feiern, Ernennungen, Krankenbesuchen etc. Bei allen Veröffentlichungen des Papstes, ob Apostolischen Schreiben oder auch Enzykliken, ist das Unterzeichnungs- und nicht das Veröffentlichungsdatum angegeben. Register Sachregister Atheismus 189–190, 197 China 117–118 Christlich/jüdisch-abendländische Kultur 11, 75–76, 189 Christliches Menschenbild 130–131 Christologie [Jesus Christus] 84, 196–206 Drogenanbau und -handel 80–81 Ehe 134, 171–172 Empfängnisverhütung 173–176 Eschatologie 13, 207–214 Eucharistie 176, 185–187 Evangelium, Authentizität 203–204 Finanzkrise [Staatsschulden] 10, 65–67 Fortschritt 61–64 Frau in der Kirche 187–188 – Frauenordination 71, 119, 171, 178–179 Freiheit 59, 204 Glaube – und Gewalt 220 – und Vernunft [Rationalität] 201 Historisch-kritische Methode 200–210 HIV 145–147, 221–222 Holocaust [Shoa] 151–153, 158 Homosexualität 71, 119, 171, 179–181 Islam, Dialog mit dem 111, 122–127 – Burka 74–75 – Minarette 74–75 Judentum, Dialog mit dem 103–107, 153, 158 – Karfreitagsfürbitte 132–133 Kirche [Religion], Gegenwart und Zukunft 10, 71–72, 75–79, 84–87, 165–170, 188–190 Kirchengut, Verkauf 157–158 Legionäre Christi 56–57 Liturgie [Gottesdienst] 183–185 Mariologie [Maria] 191–195 Missbrauch von Kindern in der Kirche 40–51, 52–56, 141–142, 217–219 Moderne [Modernität, Säkularismus] 10, 36, 75–77, 141, 157, 161 Ökologie [Umweltzerstörung] 12, 60–65, 67–68 Ökumene 111–127, 176 – mit den Anglikanern 121–122 – mit den Orthodoxen 111–117 – mit den Protestanten 118–121 Papstamt 23, 91–102, 103–110, 141–142 – Aufgaben 23, 87, 99–100, 166 – Stellvertretung Christi 23–24 – Martyrium 25 – Unfehlbarkeit 22–23 Piusbruderschaft 36–40, 148–153 Pontifikat Benedikts XVI. – Personalpolitik 108–109 – Reisen, Bewertung von 138–147, 156 – Afrika 145–146 – Australien 139–140 – Brasilien 140–141, 156 – Deutschland 144–145 – Frankreich 143–144 – Israel, Palästina, Jordanien 154–155 – Malta 51 – Portugal [Fatima] 191–195 – Spanien 142–143 – Türkei 123 – USA 141–142 – Weltjugendtag Köln 139 – Tagesablauf 27–33 – Verhältnis zu Johannes Paul II./Pontifikatswechsel 18–19, 34–36 Relativismus 13–14, 69–79, 92 Schöpfung [Bewahrung] 12, 60–65, 67–68 Sexualität [Sexualmoral] 81, 129, 146–147, 221–222, 173–176, 180, 221–222 Tridentinische Messe 131–132 Umkehr [Bekehrung, Ethik des Verzichts] 67–68, 83–86 Vernunft [Rationalität] 73, 92, 100–101, 197 Vatikanum I 22 Vatikanum II 25, 38–39, 85, 93, 114, 120–121, 130, 132, 137, 148, 186, 201, 225 Wahrheit 69–70, 182, 196 Wissenschaft [Naturwissenschaft] 73, 163, 197 Zölibat 56–58, 165–171, 177 Personenregister Abbas, Mahmud 231, 243 Abdullah, König 155, 237, 243 Ahmadinedschad, Mahmud 126 Al-Tayyeb, Ahmad 237 Albertus Magnus 101 Augoustinos, Metropolit 115 Augustinus 20, 22–23, 32, 79, 224, 235 Bakhita, Josephine 28 Balthasar, Hans Urs von 225 Ban Ki-moon 234 Bartholomaios I., Patriarch 112, 230, 233, 237, 238, 240 Begley, Louis 73 Benedikt XV. 157, 228 Benedikt von Nursia 228, 243 Bernhard von Clairvaux 93–94, 212 Bertone, Tarcisio 233 Biser, Eugen 37, 205 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 45 Bonaventura 32, 224, 245 Bush, George W. 235, 238, 239 Buzzonetti, Renato 27 Chrysostomos II. 248 Ciampi, Carlo 229 Coelestin V. 249 D’Alema, Massimo 34 Elizabeth II. 249 Erdogan, Recep Tayyip 233 Eugen III. 93 Faulhaber, Michael 224 Fischer, Jan 246 Franz von Assisi 73, 236 Friedrich, Johannes 115 Frings, Joseph 225 Goethe, Johann Wolfgang von 101 Grabmann, Martin 128 Gregorios III. Laham 239 Habermas, Jürgen 84 Hanson, Mark 231 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 101 Heisenberg, Werner 197 Hilarion, Erzbischof 116 Hildegard von Bingen 68 Hitler, Adolf 73 Hochhuth, Rolf 135 Holinski, Rüdiger 210 Huber, Wolfgang 235, 237 Hummel, Karl-Joseph 135 Hussein, Muhammad Ahmad 243 Johannes XXIII. 85, 106, 110 Johannes Paul I. 226 Johannes Paul II. [Karol Wojtyła] 18–19, 32, 34–36, 52, 84, 87, 92, 103, 106, 111, 149, 154, 178, 193, 210, 226, 228, 229, 230, 232, 234, 235 Kant, Immanuel 101 Karekin II. 239 Kasper, Walter 91 Katzav, Moshe 231 Kobia, Samuel 229 Kowalska, Faustyna 210–214 Küng, Hans 230 Kyrill I., Metropolit/Patriarch 113, 232, 238, 248 Läpple, Alfred 128 Lauder, Ronald 237 Lee Myung-bak 244 Lefebvre, Marcel 148, 150, 242 Leo XIII. 14, 249 Lévy, Bernard-Henri 35, 135 Lewy, Mordechay 154 Lombardi, Federico 221 Lubac, Henri de 225 Lula da Silva, Luiz Inácio 235, 241 Maciel Degollado, Marcial 56–57 Magro, Joseph 51 Manuel II. Palaiologos 123, 220, 232 Mar Dinkha IV. 236 Medwedew, Dmitri 246 Meir, Golda 135 Meister Eckhart 101 Merkel, Angela 153, 234 Mertes, Klaus 246 Mesrob II. Mutafyan 233 Metzger, Yona 237 Meyendorff, John 167 Mokrzycki, Mieczysław 29 Müller, Gerhard Ludwig 113–114 Mutter Teresa 73 Naguib, Antonios 233 Napoleon 73 Napolitano, Giorgio 241 Nazir-Ali, Michael 126 Netanjahu, Benjamin 243 Neusner, Jacob 132–133 Newman, John Henry 192, 250 Nguyen Tan Dung 234 Noko, Ishmael 249 Obama, Barack 245 Olmert, Ehud 233 Pacelli, Eugenio s. Pius XII. Padre Pio 244 Paul VI. 23, 94–95, 107, 111, 157, 165, 173–175, 178, 225, 226, 246 Paulus 99, 165, 203 Pera, Marcello 71 Peres, Shimon 154, 237, 243, 249 Pfeiffer, Christian 48 Pius X. 158 Pius XII. [Eugenio Pacelli] 134–136 Pole, Reginald 23 Putin, Wladimir 234 Ratzinger, Familie 223 Ratzinger, Georg 223, 224 Rodé, Franc 55 Rogoff, Kenneth 66 Rudd, Kevin 244 Safranski, Rüdiger 167 Saint-Exupéry, Antoine de 196 Sarkozy, Nicolas 240 Singer, Israel 105 Sloterdijk, Peter 65 Sodano, Angelo 233 Spaemann, Robert 196 Stapel, Hans 156 Teilhard de Chardin, Pierre 197 Thomas von Aquin 32, 128 Twomey, Vincent 41 Victor, Ulrich 202 Vinzenz von Paul 73 Visseyrias, Philippe 221 Welch, Raquel 175 Williams, Rowan 237, 239, 246 Williamson, Richard 40, 148–150, 152, 154, 242 Wojtyła, Karol s. Johannes Paul II. Zola, Émile 14 Zollitsch, Robert 247 © Libreria Editrice Vaticana, Città del Vaticano 2010 All rights reserved Für die deutschsprachige Ausgabe: © Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010 Alle Rechte vorbehalten www.herder.de Register: Frank Giesenberg Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig ISBN (E-Book) 978-3-451-33649-2 ISBN (Buch) 978-3-451-32537-3